Leon
Battista Alberti, Hypnerotomachia Poliphili / © 2003/2005 Gerhard Goebel und
Franz Gnaedinger, fgn(a)bluemail.ch, fg(a)seshat.ch, www.seshat.ch / Designed
for Explorer 5 and 6 / Lauftext: Times New Roman 12, GROSSBUCHSTABEN 11, Anmerkungen 11. Mathematische Zeilen:
Courier New 11. Vorspann und Links:
Century Gothic 12
Leon Battista Alberti, Hypnerotomachia Poliphili
Gerhard
Goebel, Romanist, Autor der Habilitation Poeta
faber (Heidelberg 1971), ein Spezialist für virtuelle Architekturen in der
Poesie, bis zu seiner Emeritierung am Institut für Romanische Sprachen an der
Goethe-Universität in Frankfurt am Main lehrend, fand den Schlüssel zu einem
wichtigen Kapitel der Renaissance. Im Frühjahr 2003 schrieben wir einen
gemeinsamen Artikel, der hier in einer leicht modifizierten online-Version
vorgestellt werden soll (designed für Explorer 5 und 6).
Überblick
über die Pläne, die im Text nocheinmal aufgeschaltet sind:
Sant’
Andrea, Mantua (idealer Plan) Andrea 1 / Andrea 2 / Andrea 3 / Andrea 4 / Andrea 5 / Andrea 6 / Andrea 7 / Andrea 8 / Andrea 9 / Andrea 10 / Andrea 11 / Andrea 12 // Tempio
Malatestiano, Rimini (idealer Plan) Rimini 1 / Rimini 2 / Rimini 3 / Rimini 4 / Rimini 5 / Rimini 6 / Rimini 7 / Rimini 8 / Rimini 9 / Rimini 10 / Rimini 11 / Rimini 12 / Rimini 13 / Rimini 14 //
Castel del Monte, Apulien Castel / Castel 2 / Castel 3 / Castel 4 / Castel 5 / Castel 6 / Castel 7 / Castel 8 / Castel 9 / Castel 10 //
Pantheon, Rom Pantheon
Polygone
auf der Basis der Tripelfolge 3-4-5, 7-24-25, 44-117-125 … Polygon 1 / Polygon 2 / Polygon 3 // Polygon a / Polygon b / Polygon c // Doppelwinkel des Tripels 44-117-125,
Hilfskonstruktion für ein 35-Eck Polias 35 / Polias 36
Magna
Porta Polias 1
/ Polias 2 / Polias 3 / Polias 4 / Polias 5 / Polias 6 / Polias 7 / Polias 8 / Polias 9 / Polias 10 / Polias 11 // Eingangsmonument,
Magna Porta, Tempel der Venus Physizoa Polias 12
// Insel Kythera Polias 54 / Polias 55 / Polias 56 / Polias 57 / Polias 58 / Polias 59 / Polias 60 / Polias 61
// Venusbrunnen Polias 40 / Polias 41 / Polias 42 / Polias 43 / Polias 44 / Polias 45 / Polias 46 / Polias 47 / Polias 49 / Polias 50 //
Trastevere und Rom Polias
51 / Polias 52 / Polias
53
Gerhard
Goebel, Polifilos Traum und das System Polias
Mit
einem Einschub und einem Anhang von Franz Gnaedinger,
sowie
einem Nachtrag vom Januar 2005
Was ist das, Polifilos Traum? Der volle Titel des 1499 bei Aldo Manuzio in Venedig erschienenen Buches sagt es verkürzt: HYPNEROTOMACHIA POLIPHILI ubi humana onmia nil nisi somnium esse ostendit atque obiter plura sane quam digna satu commemorat. {1}. Zu deutsch: Des Polifilo Erzählung vom Kampf zwischen Hypnos und Eros, worin er zeigt, dass alles Humane nichts als Traum ist, aber doch mehreres darunter als recht wissenswürdig in Erinnerung bringt. „Das schönste Buch der Renaissance“, meint Julius von Schlosser. Schön wohl weniger wegen des Textes, abgefasst in einem an sich reizvollen, aber schwer lesbaren Esperanto aus Latinismen und Gräzismen auf toskanischer Basis, und zusätzlich ermüdend durch überflüssige rhetorische Exerzitien, die wohl einem späten Bearbeiter zu verdanken sind, als wegen der einmaligen gesamtkunstwerkhaften Fusion von Typographie und Holzschnitten.
Zum Inhalt: Im ersten Teil, der viermal so lang ist wie der zweite, durchwandert Polifilo fünf Etappen, deren architektonische Gestaltung liebevoll detailliert beschrieben wird, auf der Suche nach seiner sehnsüchtig geliebten Polia, der er erst in der dritten Etappe begegnet, zunächst ohne sie zu erkennen: 1. einen dunklen Wald und ein liebliches Tal zwischen zwei Bergzügen, das abgeschlossen wird durch ein riesiges Monument, eine Pyramide, bekrönt von einem Obelisken, der eine windgedrehte Statue der Fortuna trägt, ferner ein Labyrinth im Sockel der Pyramide, in das ihn ein (von aussen kommender) Drache verfolgt. 2. ein zweites liebliches Tal, bevölkert von den Nymphen der Königin Eleutherilida (Willensfreiheit), mit einem prächtigen Palast, in dem ein Bankett und ein Schachspielballett stattfindet. 3. ein drittes liebliches Tal, das ein Triumphzug des Bacchus durchzieht, hin zum Tempel der Venus Physizoa (Leben der Natur), in dem nach „etruskischem“ Ritus Polifilos Verlobung mit Polia stattfindet, 4. das Polyandrion, eine Gräberstadt unglücklich liebender Paare; der Obelisk am Eingang jedoch ist dem „göttlichen Julius Caesar“ gewidmet, und am Eingang ist ein Hafen, von dem aus die Einschiffung der Verlobten nach Kythera stattfindet, wobei Amor persönlich die Flügel als Segel ausbreitet, 5. schliesslich Kythera selbst: eine kreisrunde, insgesamt architektonisch gestaltete Insel, mit topiarischen Bosketten, Kanälen, Springbrunnen, und einem zentralen Amphitheater, in dem vor dem Brunnen der Venus in durchsichtiger Symbolik die physische Vereinigung der Liebenden vollzogen wird: Amors Pfeil heftet Polia und Polifilo in süssem Schmerz aneinander, worauf ein zweiter Pfeil den Hymen beschrifteten Vorhang zerreisst und die Göttin in ihrer Herrlichkeit erscheint. Beim Nahen des Mars ziehen sich die Nymphen mit Polia und Polifilo an das Grab des Adonis zurück. Dort erzählen im zweiten Teil – einem Fünftel des ganzen Buches – in fünffach verschachtelter Binnenerzählung die Nymphen die Vorgeschichte des Traumes, ausgehend von der düsteren Realität, die jedoch ein imaginäres Happy End findet, so dass der Traum in genialer möbiusscher Konstruktion zum Rahmen der Wirklichkeit wird. Am Ende freilich löst sich Polia in rosigen Nebel auf, und Polifilo erwacht. Unter dem Text ein Subskript: Tarvisii Kalendis Maii MCCCCLXVII – gegeben zu Treviso, 1. Mai 1467.
Wer aber ist Polifilo, wer die Geliebte, nach der er sich benennt? Zunächst zu Polia. Dem zweiten Teil zufolge ist sie im zivilen Leben eine Patriziertochter aus Treviso namens Lucrezia de Leliis, die sich einem Pestgelübde zufolge der Diana weihte, also ins Kloster ging. Doch wer ist sie gemäss ihrem himmlischen Archetyp, nach dem Polifilo sie benennt? Die Philologen sehen in ihr etwas mühsam eine Allegorie der Antike (von poliaes = canities = Altertum). Einem rumänischen Physiker, dem Fürsten Nicolas Kretzulesco, und seiner Gattin Emanuela {2} verdanken wir die einzig überzeugende Deutung des Namens: Polia ist, in italienischer Manier verkürzt, Polias, und das ist der älteste Beiname der Athena, der Göttin der Polis. Mithin, wenn schon Allegorie, dann die der personifizierten Weisheit. Und Polifilo? Unter der berechtigten Voraussetzung, der Erzähler sei eine Ich-Projektion des Autors, fragt in einem Präliminargedicht der Leser die Musen nach Polifilos Identität, und diese verweigern die Auskunft, mit einem dunklen Hinweis auf die Gefahr des gefrässigen livor rabidus, der invidia. Freilich ist das Buch, erfährt man im Herausgebervorwort, inzwischen „vaterlos“, orbatus, und dem Grusswort der Polia ist zu entnehmen, dass der Text überarbeitet wurde. Die traditionelle communis opinio, und mit ihr der Herausgeber der Neuausgabe von 1964, Giovanni Pozzi {3}, hält an der Legende von der Autorschaft eines venezianischen Mönches namens Francesco Colonna (1432-1527) fest. Maurizio Calvesi (1965 und 1980) {4} brachte einen anderen Francesco Colonna in Vorschlag, der die römischen Altertümer, darunter den Tempelberg von Palestrina als wahrscheinliches Vorbild der Pyramide zwischen zwei Bergzügen, zweifellos besser kannte als der Mönch: den pränestinischen Baron Francesco Colonna (ca. 1453-1517), der den Tempel in Gestalt seines Baronspalastes neu errichten liess {5}. Auf einen Francesco Colonna kam man durch das Akrostichon, das die Initialen der 38 Kapitelanfänge bilden: POLIAM FRATER FRANCISVS COLVMNA PERAMAVIT (Die Polia hat Bruder F.C. sehr geliebt). Aber das ist sehr wahrscheinlich ein spätes Hommage an einen, der auch ein grosser Liebhaber der Polia(s) war, und es trifft wohl eher auf den pränestinischen Baron zu, der das „vaterlose“ Buch gerettet haben mochte, indem er es zu seinem aus einem Nachbarort von Palestrina stammenden Jugendfreund Aldo Manuzio nach Venedig brachte. Emanuela Kretzulesco hat in Les Jardins du Songe {6} die Argumente zusammengefasst, die für ihre zunehmend anerkannte Hypothese von Leonardo Battista Alberti als Autor sprechen: das Abfassungsdatum 1467 fällt in seine Lebenszeit, zugleich in die Zeit der ersten Humanistenverfolgung unter der Regie des späteren Alexander VI Rodrigo Lenzuoli Borgia. Alberti war ein führender Kopf des damaligen Humanismus, 1468 vermittelt er zwischen der von Borgia zerschlagenen römischen Akademie und der entstehenden florentinischen Akademie um Lorenzo in den von Cristoforo Landino protokollierten Disputationes camaldulenses (Kongress von Camaldoli), und er war, was der Autor des Polifilo sein musste, zugleich im Griechischen bewanderter litteratus und Architekt.
*
Nun zu den Bauwerken im Text, die Aufschluss geben über Polifilo/Albertis Proportions- und Massystem. Es sind dies die Grosse Pyramide und die Magna Porta an der Schwelle des Traumes (eines Traumes zweiten Grades übrigens: Polifilo schläft im Traum ein, erschöpft von den Strapazen des dunklen Waldes); Pavillons, der Tempel der Venus Physizoa, die Insel Kythera und der zentrale siebensäulige Venusbrunnen.
Eingangsmonument,
Magna Porta, Tempel der Venus Physizoa Polias 12
Was die Pyramide betrifft, so bezweifelt Polifilo, dass dies riesige Bauwerk, mit einer Basislänge von 6 Stadien (mehr als einem Kilometer), und auf einem über 600 m hohen Sockel, von Menschen errichtet werden könnte. Immerhin ist es signiert: LYCHAS LIBICUS ME EREXIT. Aber ist nicht „Lychas“ der Leuchtende, also vielleicht der libysche Ammon höchstselbst? Ein Gott, Poseidon war es, der das Vorbild von Kythera, die Hauptstadt von Atlantis schuf. Und so hat ein Gott, Vulcanus, das Vorbild dieses Monuments, den Tempelberg von Praeneste, erschaffen, freilich nur als Pyramidenrelief, in der Tat vulkanischen Ursprungs. Maurizio Calvesi {7} hat den Vorbildcharakter dieser gewaltigen Tuffsteinplatte, die zwischen den Albanischen und den Lepinischen Bergen weithin sichtbar vorspringt, erkannt, und Emanuela Kretzulesco hat sich ihm in dieser Hinsicht angeschlossen. Die Breite des Tempelberges von Palestrina entspricht ziemlich genau derjenigen von Polifilos Pyramide, also gut 1 km.
Seit einigen Jahren korrespondiere ich mit Franz Gnaedinger, einem Kulturwissenschafter aus Zürich, welcher im folgenden Einschub zu Wort kommen soll.
System Polias / Ordine Italiano Einschub von Franz Gnaedinger
Gerhard Goebel, ein Pionier im Erforschen virtueller Bauten in der romanischen Poesie {8}, hält Leon Battista Alberti für den Autor der Hypnerotomachia Poliphili und glaubt, dass dieser für seine zahlreichen in der HP vorgestellten und beschriebenen Gebäude ein geometrisches System verwendet habe, welchem er (Gerhard Goebel) den schönen Namen System Polias verlieh. Diesem System gehören die Tripel 3-4-5 bzw. 15-20-25 und 7-24-25 an, welche das Ausmessen eines Kreises vom Radius 25 Einheiten ermöglichen; die Leiter des Eudoxus, welche das approximative Berechnen des Quadrates erlaubt; die mehrfache Anwendung des Goldenen Schnittes, beziehungsweise die Fibonacci- und Lucas-Folge; einfache Näherungs-konstruktionen für Polygone; und weiteres mehr. Im Frühjahr 2002 habe ich das System Polias aufgenommen und habe es auf der Basis meiner Arbeiten zur frühen Geometrie und in Zusammenarbeit mit Gerhard Goebel (in der Form eines regen Briefwechsels) in folgender Weise ausgebaut.
Das System Polias besteht aus fünf Elementen: A) den kombinierten Massen von Florenz und Rom, Renaissance und Antike, B) einfachen Näherungsformeln auf der Basis von Siebner- und Elfermassen-Massen, C) echten Tripeln, Pseudo-Tripeln, und einer der Kreisberechnung dienenden Tripelfolge, ausgehend vom Tripel 3-4-5, D) einem goldenen Modulor, E) musikalischen Proportionen, und E) einem quasi-metrischen System.
A) Kombinierte Masse
I = Imperium Romanum, R = Rom der Renaissance, F = Florenz der Renaissance:
I mille passus 140'000 e 148'552,727... cm
I stadium
17'500 e 18'569,090... cm
I actus 3'360 e 3'565,265... cm
I pertica decempeda 280 e 297,105... cm
R canna Romana 210 e 222,829... cm
I passus 140 e 148,552... cm
I gradus 70 e 74,276... cm
F braccio Fiorentino ----- 55 e ------ 58,36
cm Eichmass
I cubitum 42 e 44,565... cm
I palmipes 35 e 37,138... cm
I pes 28 e
29,710... cm
R palmo Romano 21 e 22,282... cm
I palma 7 e 7,427... cm
I digitus 7/4 e 1,856... cm
Einheit 1 e 1,061090909... cm
Der gut bezeugte braccio Fiorentino mass 58,36 cm. Der palmo Romano mass je nach Angabe 22,234 cm, 22,319 cm, 22,34 cm. Der Mittelwert beträgt 22,297666... cm. Der goldene Minor des braccio Fiorentino misst praktisch gleich viel, nämlich 22,2915346... cm (Differenz 0,006 mm). Das altrömische Stadion zählt 125 passus und mass rund 185 m. Das obige System auf der Basis des braccio Fiorentino ergäbe ein Stadion der Länge 185,690909... m, aufgerundet 186 m. Die Fehler sind klein, selbst auf lange Strecken hochgerechnet. Im Fall des palmo Romano liegt der Fehler im Streubereich der überlieferten Werte.
B) Einfache Näherungsformeln
Der
Durchmesser eines Kreises betrage 1 palmipes (35e),
sein Umfang
misst 2 braccia Fiorentini (110e)
Der Radius
eines Kreises messe 1 palmipes (35e),
seine Fläche
misst 2 palmipedes mal 1 braccio (3850ee)
Der
Durchmesser einer Kugel betrage 1 palmipes (35e),
ihre
Oberfläche misst 2 palmipedes mal 1 braccio (3850ee)
Der
Durchmesser einer Kugel betrage 1 palmipes (35e),
das Volumen
dreier Kugel beträgt
1 palmipes
mal 1 palmipes mal 1 braccio (67’375eee)
Die Seite
eines Quadrates messe 10 palmipedes (350e),
die
Diagonale misst 9 braccia Fiorentini (495e)
Die Länge
einer Strecke sei ein braccio (55e),
der goldene
Minor ist ein palmo Romano (21e),
der Major
ein braccio minus ein palmo (34e)
Der Radius
eines Kreises betrage 1 braccio (55e),
die
Seitenlänge des einbeschriebenen Zehnecks misst
einen
braccio minus einen palmo Romano (34e)
Die Seitenlänge
eines gleichseitigen Dreiecks messe
5 passus
(700e) oder 49 palmipedes (1715e), die Höhe
beträgt 11
braccia (605e) oder 27 braccia (1485e)
Die
Seitenlänge eines 7-Ecks messe 11 braccia (605e),
der Radius
des Umkreises beträgt 5 passus (700e),
jener des
einbeschriebenen Kreises 18 palmipedes
(630e) –--
wichtig für den Venusbrunnen
Der
Durchmesser eines Kreises betrage einen braccio
Fiorentino
(55e), die Seitenlänge des einbeschriebenen
Oktogons
misst praktisch einen palmo Romano (21e)
Wie zeichnet
man ein genaueres Achteck? Mithilfe
der
Eckdiagonalen eines Quadrates der Seitenlänge
10
palmipedes + 9 braccia + 10 palmipedes (1195e)
Mit einem
schmalen rechtwinkligen Dreieck der
Katheten 7
braccia (385e) und 2 palmipedes (70e)
kann man ein
(gezahntes) 35-Eck konstruieren
C) Ein Verfahren der
Kreisberechnung auf der Basis einer Tripelfolge
Man zeichne ein Gitter von 3x2, 6x4, 12x8 (…) immer feineren Quadraten, und trage, von der linken unteren Ecke ausgehend, Diagonalen der Steigung 1/2, 4/3, 11/2 (…) ein. Verdoppelt man die Winkel dieser Diagonalen, so erhält man die Tripel 3-4-5, 7-24-25, 44-117-125 (…), welche das Ausmessen und approximative Berechnen des Kreisumfanges gestatten.
Polygon 1 / Polygon 2 / Polygon 3 // Polygon a / Polygon b / Polygon c // pi
Im Weiteren verwendet das System Polias: Pseudo-Tripel wie etwa 12-12-17, und echte Tripel wie zum Beispiel 51-140-149, welches einen Winkel von praktisch 20 Grad ergibt und für die Konstruktion des 18-Ecks verwendet werden kann.
D) Ein goldener Modulor
Die kombinierten Masse erlauben goldene Folgen analog dem Modulor von Le Corbusier (21e = palmo Romano, 55e = braccio Fiorentino):
1e 1e
2e 3e 5e
8e 13e 21e
34e 55e 89e
144e ...
1e 3e
4e 7e 11e
18e 29e 47e
76e 123e 199e
322e ...
1e
2e 5e 13e
34e 89e
3e 7e
18e 47e 123e
1e 3e
8e 21e 55e 144e
4e 11e
29e 76e 199e
Der Radius eines Kreises messe 89 e; die Seitenlänge des einbeschriebenen Zehnecks misst 55 e oder einen braccio Fiorentino. Der Radius eines anderen Kreises messe 2 braccia oder 2x55e = 110 e, die Seitenlänge des einbeschriebenen Zehnecks misst 2x34e = 68e. (Gemäss Gerhard Goebel soll der gematrische Wert der Buchstaben P.O.L.I.A.S. 68 betragen.)
E) Musikalische Proportionen
2:1 =
partica decempida / passus = passus / gradus
= gradus
/ palmipes = cubitus / palmo Romano
= 1
canna Romana / 3 palmipedes
3:2 = canna Romana
/ passus = cubitus / pes
4:3 = 2
canne Romane / 9 palmipedes
=
partita decempida / canna = 1 passus / 3 palmipedes
5:4 = 1
canna Romana / 4 cubita = 1 passus / 4 pes
6:5 =
cubitus / palmipes
5:3 = 1
canna Romana / 3 gradus = 1 passus / 3 pedes
F) Ein quasi-metrisches System
Die kombinierten Masse gestatten überdies ein Rechnen in Zehnerpotenzen, die dem metrischen System nahekommen:
1 e
= 1,061... cm
10 e
= 10,610... cm
100 e
= 106,109... cm = 1,061 m
1'000 e
= 1061,090... cm = 10,619 m
10'000 e
= 10610,909... cm = 106,190 m
100'000 e
= 106109,090... cm = 1061,909 m = 1,061... km
1 e ist wenig mehr als ein Zentimeter, 100 e sind wenig mehr als ein Meter, 100’000 e sind wenig mehr als ein Kilometer. (Der Erdradius entspräche ziemlich genau 600'000'000 e.)
Das System Polias erlaubt einfache Konstruktionen der Gebäude in der Hypnerotomachia Poliphili, es erklärt die Gliederung der Insel „Kythera“ und bewährt sich möglicherweise auch an den Fassaden des Tempio Malatestiano in Rimini und der Basilika Sant’ Andrea in Mantua (allenfalls eine verkleinerte und modifizierte Version eines geplanten Neubaus von St. Peter in Rom). Sollten meine Analysen zutreffen {9}, so wären die genannten Fassaden Beispiele für Albertis finitio, den harmonischen Einklang, dem weder etwas Substantielles beigefügt noch weggenommen werden kann:
Sant’
Andrea (idealer Plan) Andrea 1 / Andrea 2 / Andrea 3 / Andrea 4 / Andrea 5 / Andrea 6 / Andrea 7 / Andrea 8 / Andrea 9 / Andrea 10 / Andrea 11 / Andrea 12 //
Tempio Malatestiano (idealer Plan)
Rimini 1 / Rimini 2
/ Rimini 3 / Rimini 4 / Rimini 5 / Rimini 6 / Rimini 7 / Rimini 8 / Rimini 9 / Rimini 10 / Rimini 11 / Rimini 12 / Rimini 13 / Rimini 14
Marco Ariani und Mino Gabriele plädieren in ihrem 1998 bei Adelphi erschienenen Standardwerk zur HP {10} für die Autorschaft Francesco Colonnas, merken aber an, dass die Anleitung zur Konstruktion der Magna Porta nicht genau mit den Holzschnitten übereinstimmt {11}. Zum Beispiel bekommt man für den Torrahmen folgende Proportionen: Rahmenhöhe zu Rahmenbreite = 2/1, lichte Höhe zu lichter Weite = 2.3…/1. Vermisst man den Holzschnitt, so erhält man andere Zahlen: lichte Höhe zu lichter Weite = 2/1, Rahmenhöhe zu Rahmenbreite = 7/4. Höhe und Breite des ganzen Monumentes stehen nach der Anleitung im Verhältnis 3/2, während der Holzschnitt bei Berücksichtigung der Perspektive ein Verhältnis von 7/4 nahelegt, was der Proportion des Torrahmens entspräche.
Magna
Porta Polias 1
/ Polias 2 / Polias 3 / Polias 4 / Polias 5 / Polias 6 / Polias 7 / Polias 8 / Polias 9 / Polias 10 / Polias 11 / Polias 12
Mithilfe des Systems Polias kann man die Magna Porta sehr viel einfacher und genauer konstruieren. Weshalb dann die umständliche und falsche Anleitung in der HP? Haben zwei Leute an dem Buch gearbeitet? Leon Battista Alberti und ein Francesco Colonna? Schrieb und zeichnete jener die Urfassung von 1467, machte dieser die Bearbeitung von 1499? Und wenn ja: welcher Francesco Colonna käme in Frage? der pränestinische Baron, Architekt, Stadtplaner, Diplomat und Ehrenbürger von Venedig? oder der venezianische Mönch von SS Giovanni e Paolo und Rhetoriklehrer? Gemäss Gerhard Goebel waren beide involviert: der Baron rettete Albertis Buch und Pläne aus Rom und brachte sie seinem Jugendfreund Aldo Manuzio nach Venedig, welcher sie dem gleichnamigen Mönch weitergab. Dieser hätte dann das Buch überarbeitet, mit Exerzitien befrachtet, die Pläne in Holzschnitte umgesetzt oder umarbeiten lassen, und die Gebäude mit Konstruktionsanleitungen versehen. Weil er aber das geometrische System nicht kannte, gerieten seine Anleitungen ebenso umständlich wie falsch, wohingegen der Baron ein guter Architekt gewesen sei und gewiss eine einfache und genaue Anleitung für die Konstruktion der Magna Porta geschrieben hätte.
Leon Battista Alberti war als unehelicher Sohn einer vornehmen Florentiner Familie in Genua aufgewachsen, ging nach Florenz und später nach Rom, wo er die antiken Ruinen und Gebäude vermass, ein Buch namens Descriptio urbi Romae schrieb, und in einem weiteren Buch namens De re aedificatoriae von einem geheimnisvollen ordine italiano sprach. War dieser vielleicht mit dem obigen System Polias identisch? Sah Alberti in den so leicht vereinbaren Massen von Florenz und Rom, von Renaissance und Antike ein Omen für eine mögliche Vereinigung Italiens und eine Rückkehr zur einstigen Grösse? Träumte er von einem neuen Römischen Reich? angeführt von einem neuen „göttlichen“ Julius Caesar? welchem er als Baumeister dienen wollte? und welchem er ein Denkmal in Form einer Pyramide auf einem Sockel zu errichten gedachte?
Eingangsmonument,
Magna Porta, Tempel der Venus Physizoa Polias 12
Die gewaltige Pyramide in der HP {12} basiert auf einem elementaren Modell im Rahmen des Systems Polias oder eben des hypothetischen ordine italiano: Sockel 10 x 10 x 6 canne Romane, Diagonale der Seitenfläche 35 gradus, Diagonale der Bodenfläche und Pyramidenbasis 54 braccia Fiorentini, Basislänge und Kantenlänge der Pyramide je 10 canne, Pyramidenhöhe 27 braccia, schräge Höhe 13 passus, gesamte Höhe des Monumentes 6 canne plus 27 braccia (rund 29 Meter). Multipliziert man alle diese Masse mit einem Faktor 50, so bekommt man die überdimensionale Pyramide im Buch, welche sowohl auf die Grösse des alten Roms anspielen als auch den Ruhm des neuen Caesars vorwegnehmen mag.
In der Magna Porta wäre das System Polias codiert, einschliesslich der kombinierten Masse, der goldenen Zahlen, und der Kreisberechnung auf der Basis der Tripel 3-4-5, 7-24-25, 44-117-125 (…). Sie wäre zum einen ein Denkmal für ihren Schöpfer Alberti gewesen, zum anderen ein Triumphbogen für den neuen Caesar. Je nach Angabe und Holzschnitt weist die Magna Porta ganz unterschiedliche Grössen auf, wie das in Träumen möglich ist.
Die Venus-Insel {13} hat einen Durchmesser vom mille passus. Bei Verwendung der obigen Tripel kann man ein Polygon mit zwanzig längeren und acht kürzeren Seiten konstruieren. Die längeren Seiten messen je praktisch 360 braccia, die kürzeren Seiten je praktisch 38 passus. Teilt man den Umfang 438'560 e durch den Inseldurchmesser 140'000 e, so erhält man 2741 / 875 = 3.13257… für Pi. Bei Verwendung des Wertes 22/7 beträgt der Inselumfang 8'000 braccia (440'000 e), die Länge eines der zwanzig Sektoren 400 braccia (22'000 e). Der genaue Umfang läge zwischen den beiden obigen Werten (439’822.97… e).
Insel
Kythera Polias 54
/ Polias 55 / Polias 56 /
Polias 57 / Polias 58 / Polias 59 / Polias 60 / Polias 61
// Polygon 3
/ Polygon c
Im Zentrum der kreisrunden Insel steht der Venusbrunnen mit sieben Planetensäulen. Auch der siebeneckige Brunnen {14} ist im Rahmen des Systems Polias überaus einfach zu konstruieren. Hier nur ein kleiner Hinweis. Die Stufenbreiten des Beckens betragen 2 palmipedes oder 70 e, während der Radius des innersten Beckens 125 e beträgt, so dass im genauen Zentrum der Insel dieselben Tripel 3-4-5, 7-24-25 und 44-117-125 zur Anwendung kommen wie bei ihrem Umfang.
Venusbrunnen
Polias 40 / Polias 41 / Polias 42 / Polias 43 / Polias 44 / Polias 45 / Polias 46 / Polias 47 / Polias 49 / Polias 50
Die kreisrunde Insel mag das vereinigte Italien symbolisieren: anstelle der langen Halbinsel konzentrische Ringe. Der Venusbrunnen im Zentrum der virtuellen (utopischen) Insel mag für den Wunsch einstehen, dass der neue Caesar weniger dem Kriegsgott Mars als der Liebesgöttin Venus dienen möge, und dass dem Land friedliche und glückliche Zeiten bevorstehen.
Wäre es denkbar, dass Alberti in der Hypnerotomachia Poliphili solche Träume, Visionen, Hoffnungen und Ambitionen wie auch ihr Scheitern in allegorischer Form schilderte?
*
Wer der Drache sei? fragte mich Gnaedinger in einem Brief vom Herbst 02. Gute Frage. Ich konnte sie dank Emanuela Kretzulescos ausgezeichneter Skizzierung des politischen Hintergrundes der Hypnerotomachia Poliphili sofort beantworten: der Stalin der Epoche, Rodrigo Lenzuoli Borgia, später Alexander VI, der den mächtigen Bankier, Humanisten und Politiker Lorenzo de’ Medici und gar manchen aus seinem Kreis (z.B. Pico della Mirandola und Poliziano) durch Gift beseitigen liess. 1492 war das grosse Jahr dieses Terroristen auf dem Heiligen Stuhl: Wahl zum Papst durch Simonie, offizielle Einführung der Inquisition, Ermordung Lorenzos (vgl. dazu den diplomatisch verschleierten Bericht von Cristoforo Landino). Seine Karriere als Humanistenverfolger begann dieser nicht einmal zum Priester geweihte Kurienkardinal bereits 1464/1468 mit der Auflösung des Abbreviatoren-Kollegs von Pius II Piccolomini, dem auch Alberti angehörte, und mit dem Prozess gegen die Häupter der römischen Akademie, Pomponio Leto, der hingerichtet wurde, und Platina, der widerrief und jämmerlich überlebte.
Die Anklage von 1468 lautete auf Verschwörung zur Wiedereinführung des Paganismus und zur Abschaffung des Papstes. Offensichtlich ein absichtliches Missverständnis des Denkens der Humanisten um Nikolaus V. und Pius II., das sich nur gegen die päpstliche Temporalgewalt richtete und auf ein ökumenisches Verstehen der biblischen Botschaft aus war. Wie Emanuela Kretzulesco gezeigt hat {15}, suchten die Humanisten des Quattrocento eine prisca enarratio theologica in den antiken Mythen und Mysterien. Der Anklage von 1467 wäre auch der Autor des Polifilo zum Opfer gefallen. Auch hier erscheinen jüdisch-christliche Glaubensgegenstände in ihrer antiken Vorprägung. Der Dreikant im Garten der Eleutherilida, mit der Aufschrift ΟΩΝ (der Seiende), verweist auf die Trinität, das Grab des Adonis auf die Grablegung Christi (Adonai, der Herr, ist ein Name Jahwes), und die Aufschrift IMPxxxxVRA SVA VITAxS mit den von Zweigen und Blüten verdeckten Buchstaben, ist eine Verheissung der Auferstehung, wie Maurizio Calvesi herausfand {16}: IMPERITURA SUA VITA.
Wurde auch Francesco Colonna von Palestrina, der mutmassliche Retter von Albertis Text, von Borgia verfolgt? Dies mit Sicherheit, wenn auch nicht wegen des Polifilo-Buches, das ein Borgia wohl kaum zu lesen vermochte, sondern weil der pränestinische Baron und einige andere Colonnas und Savellis sich bei Ausbruch des Neapel-Krieges (1498) weigerten, die Schlüssel ihrer befestigten Städte dem Papst auszuhändigen, der den Einmarsch der Franzosen nutzen wollte, um sich der römischen Barone, der Feinde der päpstlichen Temporalgewalt (das waren schliesslich auch die traditionell welfischen Orsinis) zu entledigen. Francesco Colonna war als hochgebildeter päpstlicher Diplomat und venezianischer Ehrenbürger doppelt suspekt. Er überlebt das Castel S. Angelo und die Folter und kann nach Borgias endlich erfolgter mise à mort nach Palestrina zurückkehren.
Ist Polia(s) in den 90er Jahren unter dem Pontifikat Alexanders VI verschieden? Francesco Colonna von Palestrina äussert sich dazu in einer radikal zweideutigen, paradoxalen Terzine, die er sogar im Akrostichon signiert:
F oelix Polia, quae sepulta vivis,
C laro Marte Poliphilus quiescens
I am fecit vigilare te sopitam
(ed. Pozzi, S. 452) F.C.I = Franciscus Columna invenit (Glückliche Polia, die du begraben lebst, bei Kriegsausbruch ruhend, liess alsbald Polifilo dich Entschlafene wachen). In einem nachfolgenden Epitaph spricht die Entschlafene selbst:
HEU POLIPHILE
DESINE
FLOS SIC EXSICCATUS
NUNQUAM REVIVISCIT
VALE
(Ach, Poliphilus, lass ab, mich mit Deinen Tränen zu bewässern. Eine so verdorrte Blume lebt nie wieder auf. Leb wohl.)
Anscheinend ist es am Leser zu entscheiden, ob Polia(s) lebt, und es wird sich weisen, ob dem System Polias dasselbe traurige Schicksal beschieden war, oder ob es doch in irgendeiner Form überlebte.
ANMERKUNGEN
Wir
zitieren nach: HP, Edizione critica e
commento, a cura di Giovanni Pozzi e Lucia A. Ciapponi, Padova, Antenore, 1980,
2 Bde. (Die gebundene Erstauflage erschien ebd. 1964.):
1)
Emanuela Kretzulesco Quaranta: Les
Jardins du Songe. „Poliphile“ et la Mystique de la Renaissance, Paris, „Les
Belles Lettres“, 1986, S. 62. (Die Erstauflage dieses Werks erschien ebd. 1976.)
2)
G. Pozzi, a.a.O. Bd. II.
3)
Maurizio Calvesi: Identificato l’autore
del Polifilo, in: Europa Letteraria, p. 35 (1965). Ders.: Il sogno di Polifilo prenestino, Roma,
Officina Edizioni, 1980, S. 24 ff.
4)
Vgl. G. Goebel: Lo sguardo del principe:
Francesco Colonna 1493/1993, in: Italienisch, Heft 29, Mai 1993, S. 42-52.
Dort auch der Nachweis, dass der hochgebildete pränestinische Baron, grosser
Kenner der römischen Altertümer und beachtlicher Architekt, aber auch
vielgeplagter Stadtherr und Diplomat, weder als Autor noch als Bearbeiter der
HP in Frage kommt.
5)
E. Kretzulesco, a.a.O. S. 26 f. Ferner dieselbe: Le Jardin de l’Absolu. Itinéraire à la recherche du Savoir perdu, au
fil du „Songe de Poliphile“, Soragna (Parma), Editions du Savoir perdu,
2001, S. 21 ff.
6)
M. Calvesi, a.a.O. (1965 + 1980).
7)
G. Goebel: Poeta faber. Erdichtete
Architektur in der italienischen, spanischen und französischen Literatur der
Renaissance und des Barock, Heidelberg, Winter,
8)
1971. Ders.: Der Tempel der Venus
Physizoa und die Vermessung von Kythera, in: architectura (1984), S.
139-148.
9)
Provisorische Vermessungen der Fassaden des Tempio Malatestiano in Rimini und
der Basilika Sant’ Andrea in Mantua auf der Basis guter Aufnahmen und mehrerer
Plänchen; wären an den Gebäuden zu prüfen (FG).
10)
Marco Ariani und Mino Gabriele in ihrer kritischen Neuausgabe der HP (Text,
Übersetzung in modernes Italienisch und Kommentar), Adelphi, 1998, Bd. II.
11)
Vgl. Ausgabe Pozzi und Ciapponi, a.a.O. BD I, S. 34 f. (Konstruktionsanleitung),
S. 47 und 54 (Holzschnitte). Der Text der Konstruktionsanleitung, in der
Fassung von 1499 recht verworren, wurde offenbar das Opfer unverständiger
Bearbeitung.
12)
Siehe ebd. S. 16.
13)
Zur Vermessung von Kythera siehe ebd. S. 291 (Vermessung des Kreisumfangs
mittels eines 35-Ecks mit a35 = 1/11 Meile) und S. 305 (Grundriss und
Vermessung der konzentrischen Kreisdiameter in passus, pedes und palmae.) Auch
hier wieder Spuren unverständiger Bearbeitung, insbesondere S. 291 der
unsinnige Zusatz: dunque il diametro di
questa voluptuosa insula praestavasi uno millario, adiuncte, dille undeci
partitione, due.
14)
Ebd. S. 353 f.
15)
E. Kretzulesco Quaranta: Les Jardins du
Songe, a.a.O.; Zusammenfassung in: Les
Jardins de l’Absolu, a.a.O., S. 9 ff.
16)
M. Calvesi: Il sogno di Polifilo
prenestino, a.a.O. S. 188 f.
Anhang (FG)
Wenn auch die Venusinsel auf ein römisches Projekt Albertis verweisen sollte, könnte es eine Insel im Trastevere-Bogen des Tiber gewesen sein. Sie hätte die Insula Tiberina eingeschlossen, eine Teilung des Flusses in zwei schiffbare Kanäle erforderlich gemacht, und wäre von einem lockeren Ring neuer Siedlungen umgeben gewesen. Inselradius 2 Stadien = 250 passus (35'000 e, rund 371,4 m), Radius des Siedlungsringes nocheinmal 250 passus, Durchmesser des ganzen Kreises mille passus, gleichviel wie der Durchmesser von Kythera in der HP. Die Trastevere-Insel würde sich schön in den Flussbogen schmiegen, der Siedlungsring recht gut in den südwestlichen Teil der Aurelianischen Mauer fügen. Polias 51 / Polias 52
Der siebeneckige Venusbrunnen stünde im Zentrum der grossen künstlichen Insel. Wenn eine der sieben Säulen und Planetenkugeln nach Norden wiese, ergäben sich folgende Ausrichtungen (im Uhrzeigersinn, beginnend mit Norden): Mausoleum des Augustus (Nachfolger Caesars, welcher dessen Ermordung rächte, Begründer des Goldenen römischen Zeitalters; Epoche des Vitruv, dessen Bücher Alberti übersetzte, wobei er ob der vielen dunklen Stellen geseufzt haben soll; im 16 Jahrhundert beherbergte das Mausoleum die Gärten der römischen Humanisten), Porta Flaminia beim Tiber // Tempel des Saturn (angeblich die älteste latinische Gottheit, ein Gott der Saaten, welcher Latium das Goldene Zeitalter bescherte), Forum Caesari mit dem Tempel der Venus Genetrix (Beschützerin des Julischen Hauses), Forum Augusti mit dem Tempel des Mars Ultor (gilt als schönster römischer Tempel, Augustus liess darin Statuen der Venus, des Mars und des zum Gott erhobenen Julius Caesar aufstellen), Castra Praetoria // Porta Metrovia // Porta Ostiensis mit der 27 m hohen Pyramide des 12 v. Chr. verstorbenen Prätors, Volkstribuns und Septemvirs Caius Cestius (zum Vergleich: die elementare Lösung der Polias-Pyramide auf ihrem Sockel wäre 29 m hoch) // Porta Portuensis beim Tiber // Gianiculo // Porta Septimiana beim Tiber und (Alt-) St. Peter im Vatikan (- neue Religion, Spiegelachse zur alten Religion; die Idee dieser Achse übernahm Bramante mit seiner als Prachtstrasse geplanten Via della Lungara, wenn auch in umgekehrter Richtung, nämlich vom Vatikan ausgehend).
Man bedenke, dass Rom in Albertis Zeit heruntergekommen war. Am Capitol weideten Schafe. Bandenkriege in den Strassen waren Alltag. Grosszügige Ideen und Visionen für den Wiederaufbau Roms waren unerlässlich - und sei es als Inspiration für Albertis Nachfolger, welche ihre Projekte dann auch realisieren konnten.
Dank dem System Polias wäre das Ausmessen der Insel sowie das Planen und Bauen der Siedlungen relativ einfach gewesen. Hier sei nur auf das Problem der Inselvermessung eingegangen. Wie zeichnet man einen Kreis im Gelände, wo sich kein zentraler Pflock einschlagen und kein Seil als beweglicher Radius verwenden lässt? Gar in einer von Häusern bestandenen Flussebene? Die Antwort findet sich in Gerhard Goebels hellsichtigem Artikel Der Tempel der Venus Physizoa und die Vermessung von Kythera (architectura 1984): Einen Kreis vom Radius 25 Einheiten kann man mit den Tripeln 7-24-25 und 15-20-25 ausstecken. Dieselbe Methode würde sich für das Ausmessen des Inselkreises empfehlen, wobei die höherzahligen Tripel 150-200-250, 70-240-250, 88-234-250 (passus) zur Anwendung kämen Das resultierende Polygon wäre schon fast kreisrund. Es hätte zwanzig Seiten einer Länge von je 180 braccia (105 m) und acht Seiten einer Länge von je 19 passus (28,2 m). Polias 53
Im Weiteren liest Goebel das eigentümliche Verhältnis 35/11 in der HP als Hinweis auf ein 35-Eck. Tatsächlich gibt es ein Polygon dieser Zahlen, das man mit einem rechtwinkligen Dreieck der Katheten 2 und 11 konstruieren kann: Man drehe die lange schmale Figur und lege sie 35 mal aneinander. Auf diese Weise erhält man ein gezahntes 35-Eck (mit einem Winkelüberschuss von 2/3 Grad auf den vollen Kreis). Wenn man lediglich die Strecken der Länge 2 zählt und die kleinen Zacken ignoriert, so erhält man einen Umfang von 70 Einheiten, während der Durchmesser des einbeschriebenen Kreises 22 Einheiten beträgt. Pseudo-Umfang / Durchmesser = 70/22 = 35/11. Die Piazza des Venusbrunnens hätte wohl ein 35-Eck sein können, als Vermittlung zwischen dem siebeneckigen Brunnen und dem Inselkreis (Seitenlänge Venusbrunnen 11 braccia Fiorentini, Radius Umkreis 5 passus, möglicher Radius der Piazza 55 passus = 140 braccia Fiorentini, 7'700 e oder rund 81,7 m). Verdoppelt man hingegen den Winkel vom Tangens 2/11, so bekommt man das Tripel 44-117-125, das der Folge 3-4-5, 7-24-25, 44-117-125 … angehört und bei Verdoppelung der Zahlen das obige Tripel 88-234-250 zum Ausmessen der Insel ergibt. Polias 35 / Polias 36
Unsere These: Alberti hegte grosse Pläne für Rom, die er leider nicht realisieren konnte und deshalb in seiner HP zusammenfasste und gleichzeitig überhöhte. So hätte er in seinem allegorischen Traum aus der hypothetischen Insel und dem Ring von Siedlungen ein neues „Atlantis“ gemacht … (Albertis Visionen und Pläne könnten Agostino Chigi und seinem Kreis von Künstlern und Humanisten bekannt gewesen sein. Mögliche Hinweise finden sich in der Villa Farnesina an der Via della Lungara ausserhalb der Porta Septimiana. Dokumente, welche einen Zusammenhang belegen könnten, gibt es allerdings keine, oder sie gingen im Mai 1527 beim Sacco di Roma verloren. Damals logierten die lanzichenecchi auch in der Villa des inzwischen verstorbenen Agostino Chigi und brauchten alles verfügbare Papier als Stroh für ihre Pferde. In Rom soll es bisweilen ausgesehen haben als ob es schneie: die Landsknechte warfen so viele Bücher und Papiere aus den Fenstern der Villen und Paläste.) Galatea / Farnesina
Gab es Vorläufer des Systems
Polias? Gerhard Goebel denkt an Castel del Monte von Friedrich II, das
möglicherweise unter Mitwirkung Leonardo Fibonaccis geplant und erbaut worden
war. Als Inspiration für „die Krone Apuliens“ wie auch für das System Polias dürfte
das Römische Pantheon gedient haben. Die Öffnung in der Kuppel hat einen
Durchmesser von 892 cm = 3 particae decempedae = 4 canne Romane = 6 passus = 12
gradus = 20 cubita = 24 palmipedes = 30 pedes = 40 palmi Romani = 120 palmae =
480 digiti (840 e). Dieses Schlüsselmass fand auch im Castel del Monte
Verwendung. Die Kuppel soll einen idealen Durchmesser von 150 pedes aufweisen
(von Säulenachse zu Säulenachse). Im System Polias wäre der Umfang mit 240
braccia Fiorentini gegeben, der Achtelbogen mit 30 braccia. Die Seite des
einbeschriebenen Quadrates dient als Mass der Vorhalle und beträgt altrömisch
106 pedes (2’968 e), im System Polias genauer 54 braccia (2’970 e). Der lichte
Durchmesser der Kuppel beträgt in etwa 147 pedes; dies ergäbe einen Umfang von
28 mal 66 palmae (wichtig für die Gliederung des Gewölbes in 28 Sektoren). Man
stelle sich vor, wie Alberti in die mächtige Kuppel hinaufsah, wo das oculus
wie eine Sonne schien, und von der einstigen Grösse Roms träumte … In seinem
Buch De re aedificatoriae schrieb er
dann auch wirklich von einer renovatio
imperii, also einer Erneuerung des (Römischen) Reiches, während die
Gliederung des inneren Teiles der Insel „Kythera“ in der Hypnerotomachia
Poliphili wohl einem langen Schauen in die Kuppel des Pantheons hinauf zu
verdanken sein mag. Castel / Castel 2 / Castel 3 / Castel 4 / Castel 5 / Castel 6 / Castel 7 / Castel 8 / Castel 9 / Castel 10
// Pantheon
Noch ein Wort zu den hier verwendeten Schreibweisen der Masse, die vielleicht ungewöhnlich anmuten. Meine Schreibweisen altrömischer Masse stammen aus einem grossen, mehrbändigen Lateindiktionär in der Zürcher Zentralbibliothek (hoffe, dass ich beim Abschreiben keine Fehler machte): passus (Einzahl, ursprünglich die Spanne der beiden ausgestreckten Arme, später militärisch zum Doppelschritt umgedeutet), passus (Mehrzahl), mille passus // cubitum, Mehrzahl wohl cubita // palma, Mehrzahl wohl palmae. Italienische Formen: palmo Romano, palmi Romani // braccio, braccia; braccio Fiorentino, Mehrzahl wohl braccia Fiorentini.
Ich schliesse
in der Hoffnung, dass Gerhard Goebels Habilitationsschrift Poeta faber {Anmerkung 8, oben} und sein Artikel Der Tempel der Venus Physizoa und die
Vermessung von Kythera {Anmerkung 9} eine elektronische Neuauflage
erfahren. Wo sind virtuelle Architekturen besser aufgehoben als im Web?
Nachtrag
vom Januar 2005
Herr Professor Goebel schickte mir freundlicherweise die Kopie des Artikels L’ARCHITETTURA NUMERABILE DI LEON BATTISTA ALBERTI, SEGNO UNIVERSALE DI ORDINE E ARMONIA von Livio Volpi Ghirardini aus dem Jahr 2001, worin einige Masse zu finden sind. Der braccio Mantovano misst 46,69 cm. Damit fügt er sich wunderbar in das obige Schema ein: braccio Fiorentino = 58,36 cm = 55 e, braccio Mantovano 44 e = 46,688 cm. Mein idealer Plan für die Fassade von San Francesco in Rimini wäre um den Faktor 70/99 zu verkleinern. Für San Sebastiano in Mantua gibt es eine schöne Lösung im Rahmen des Systems Polias. Seitenlänge des zentralen Quadrates 1750 e = 50 palmipedes, Diagonale 2475 e = 45 braccia Fiorentine, Umfang des einbeschriebenen Kreises (Basiskreis der Kuppel) 5500 e = 100 braccia Fiorentine, Gitter 1750 e mal 1750 e, Radius der Kuppel und des Kreises 875 e, Tripel 525-700-870, 245-840-875, 308-819-875. Scheitelhöhe der Kuppel 2800 e = 80 palmipedes, Auflagehöhe der imaginären Kugel 1050 e = 30 palmipedes. Seitliche Rechtecke 630 e mal 1050 e = 18 palmipedes mal 30 palmipedes. Gliederung der Länge der Rechtecke in 315 e plus 420 e plus 315 e = 9 palmipedes plus 12 palmipedes plus 9 palmipedes = 30 palmipedes. Scheitelhöhe der seitlichen Halbkuppeln 1750 e = 50 palmipedes. Man verkleinere den originalen Plan im Rahmen des Systems Polias um den Faktor 5/6 und modifiziere die Masse auf solche Weise, dass ganze braccia Mantovane resultieren und die Proportionen des originalen Entwurfes nach Möglichkeit gewahrt bleiben. – Sant’ Andrea in Mantua wäre ebenfalls um den Faktor 5/6 zu verkleinern, so meine Annahme von 2003; aber leider habe ich von dieser Kirche noch keine Masse. FG, Januar 2005.