Leonardo da Vinci, John the Baptist (German summary); © 1974-2002 by Franz Gnaedinger, Zurich, fg(a)seshat.ch, fgn(a)bluemail.ch / www.seshat.ch

 

 

 

John the Baptist    (in preparation)

 

 

German summary:

 

 

Die Taufe Jesu von Andrea del Verrocchio

 

Andrea del Verrocchio war ein vielseitiger Künstler und Handwerker der frühen Renaissance, überdies ein wichtiger Lehrer, der mehrere hochbegabte Schüler ausbildete, unter ihnen Leonardo da Vinci, welcher in der Taufe Jesu eine Figur malte, nämlich den linken, anmutigen, sehr lebendig wirkenden, knienden, aber schon halb im Aufstehen begriffenen, zu Johannes hinüber blickenden, ihn aufmerksam bei seiner Handlung, der Taufe Jesu beobachtenden Engel; zudem die naturnahe Partie der Landschaft über den Köpfen der beiden Engel: Hügel, Seen, ausgedehnte Flussläufe, Wasserfälle    Vasari berichtet, dass Verrocchio nach der Taufe Jesu das Malen aufgegeben habe, weil er von seinem Schüler übertroffen worden war. Leonardo arbeitete aber noch zehn Jahre in Andreas Werkstatt. Offenbar kamen die beiden gut miteinander aus, und es wird wohl so gewesen sein, dass Vasari froh war um Leonardo, dem er die Leitung der malerischen Aufgaben anvertrauen und sich fortan seiner geliebten Bildhauerei widmen konnte.

     Der intensive Blick des von Leonardo gemalten Engels gab Rätsel auf. Wieso schaut er zu Johannes hinüber? Warum wendet sich der andere Engel ihm zu? Eigentlich sollten doch beide zu Jesus aufblicken.

     Lassen Sie mich die Fragen mit einer Geschichte beantworten. Wir gehen auf eine Zeitreise ins damalige Florenz und besuchen die Werkstatt von Andrea del Verrocchio. Er spricht soeben zu seinen Gehilfen:

 

Meine lieben Schüler, ich habe heute morgen einen ehrenvollen Auftrag für eine Taufe Jesu bekommen. Es möge etwas in der Art von Piero della Franceca sein, aber sonst haben wir freie Hand. Leonardo, Du hast grosses Talent bewiesen, und so möchte ich Dich gerne an meinem Auftrag beteiligen. Du sollst einen Engel malen, so natürlich und lebendig, wie es Dir eigen ist, ausserdem eine Partie der Landschaft, so naturnah wie nur Du es fertig bringst. Wenn ich mit Deiner Arbeit zufrieden bin, werde ich Dich zu meinem Stellvertreter ernennen, Dir die Aufsicht über alle malerischen Arbeiten anvertrauen und mich fortan ganz meiner geliebten Bildhauerei widmen.

     Wer war der biblische Täufer? Johannes war ein Wanderprediger, wie es damals viele gab, doch er lernte unter seinen jüngeren Kollegen einen ganz besonderen Prediger kennen, der ihm viel zu versprechen schien. Wer war dieser andere Mann? Jesus, von welchem Johannes sagte: Nach mir kommt einer der grösser ist als ich es bin ... Mir, Eurem Lehrer Andrea, geht es auch so ähnlich. Bin ein guter Maler, einer von vielen, aber da kommt mein junger Schüler Leonardo daher und malt schon so gut wie ich mit all meiner Erfahrung. Du wirst es noch weit bringen, und darfst Dich über mein Lob freuen. Aber werde mir nicht übermütig. Auf Johannes folgte Jesus, und Du wirst  auf mich folgen, aber es besteht dann doch ein grosser Unterschied zwischen der Bibel und meinem Atelier. Du bist ein genialer Künstler und hast eine ruhmreiche Laufbahn vor Dir, aber bedenke immer, dass wir Maler einen grösseren Künstler zum Vorbild haben, den wir nie einholen! Wen meine ich? Ja, ich rede von Gott, und von seiner Schöpfung, der Natur, die wir mit aller Kunst nachahmen, erforschen, immer wieder neu entdecken, ja sogar erfinden, nacherfinden, aber nie einholen. Johannes verkündete das Erscheinen eines anderen, der grösser ist als er. Auf ähnliche Weise verkünden wir Maler die Natur. Deren Schöpfer ist ein grösserer Künstler als wir alle, ja, auch grösser als Du, Leonardo. Johannes taufte Jesus im Jordan und offenbarte ihn seinen Jüngern. Ich male die Natur mit ihren Schönheiten und Wahrheiten und offenbare sie auf solche Weise meinen Mitmenschen. Als Maler bin ich auch eine Art von Täufer. Du, Leonardo, wirst mir bald in dieser Rolle folgen. Lerne fleissig von mir, solange ich Dir noch etwas beibringen kann, schau mir zu, hör auf mich, dann sollst Du meine Nachfolge antreten.

     Jetzt aber zum neuen Bild. Ich denke, wir malen etwas in der Art von Piero della Francescas Taufe Jesu, aber damit wir nicht einfach eine billige Kopie anfertigen, will ich das Thema beleben, indem ich unsere Werkstatt einbringe. Ich werde Johannes malen, und Du, Leonardo, wirst einen Engel malen, der zu mir aufschaut. Ich werde auch im Bild Dein Lehrer sein, Du wirst auch im Bild mein Schüler sein. Gib Dein allerbestes, dann will ich Dich zu meinem Nachfolger ernennen und mich fortan der Bildhauerei widmen.

     Ihr wisst ja, dass Piero della Francesca die Geometrie sehr schätzt, und dasselbe gilt von Dir, Leonardo. Wir werden also auch in unserer Taufe Jesu eine Geometrie anwenden, die jener Pieros gleicht, aber wir wollen sie auf unsere Thematik hin abwandeln. Wie bei Piero soll Jesus im flachen Wasser des Jordan stehen und die vertikale Bildachse einnehmen. Über ihm soll eine Taube schweben, die mit ihrem Schnabel die Achse markiert. Dann wollen wir das Verhältnis von Lehrer und Schüler so versinnbildlichen, dass wir Johannes und den linken Engel, den Du, Leonardo, übernehmen sollst, auf zwei parallele Halbdiagonalen des von Piero ausgeliehenen Gitterplanes 12 mal 12 beziehen: der gestreckte Körper von Johannes soll einer der beiden Halbdiagonalen folgen, der Kopf des zu Johannes aufblickenden Engels der anderen Halbdiagonalen, wobei die Augen der beiden Figuren auf den Halbdiagonalen selber liegen sollen. Dann möchte ich noch einen Mittelkreis im Bild haben. Sein Durchmesser entspreche dem goldene Major des Bildmasses. Anstelle der Laubbäume Pieros nehmen wir eine Palme. Ihr Stamm soll den Kreis berühren. Ausserdem sollen die Figuren wenn möglich auf den Kreis Bezug nehmen und auf solche Weise das Bild zentrieren.

     So, jetzt ist alles gesagt, bis auf eines: Ich möchte euch um Stillschweigen bitten über meinen Vergleich des Malers mit Johannes dem Täufer. Wenn die Kirche davon erfährt, könnte sie mein Vorhaben wenn auch nicht gerade als Blasphemie so doch als Anmassung auslegen. Bedenkt also wohl was ich Euch sage, insbesondere Du, Leonardo, bewahrt aber Stillschweigen, und macht Euch an die Arbeit.

 

Eine solche Rede wäre Andrea del Verrocchio ohne weiteres zuzutrauen, und falls er wirklich in diesem Sinne zu seinen Gehilfen gesprochen haben sollte, so hätte er neben seinem künstlerischen Werk einen zweiten grossen Beitrag an die Kunstgeschichte geleistet, indem er nämlich den jungen Leonardo auf eine Idee gebracht hätte, welche meiner Meinung nach viele von dessen Werken bestimmen sollte: Leonardo machte (so glaube ich) Johannes den Täufer zu seinem alter ego und dokumentierte über ihn seine Laufbahn als Maler.

 

(Die Tafel der Taufe Jesu von Piero della Francesca ist glücklicherweise ganz erhalten. Die mit seitlichen und oberen Freiräumen in die Tafel eingepasste Geometrie wird vom Bildplan 12 mal 12, von einer steilen Pyramide und von zwei Kreisen bestimmt 


 

Die Tafel der Taufe Jesu von Andrea del Verrocchio muss beschnitten worden sein, oder es gingen Anstückungen verloren. Im ursprünglichen Format wirkt das Bild sehr viel freier. Hier nocheinmal die nötigen Angaben zu seiner Rekonstruktion. Originales Format 1:1, Bildplan 12 mal 12. Der Schnabel der Taube markiert die senkrechte Bildachse. Der Körper und hochgestreckte Arm des Johannes und der geneigte Kopf des Engels sind auf parallele Halbdiagonalen des Quadrates bezogen, wobei die Augen jeweils auf der Halbdiagonale liegen oder liegen sollten. Der Mittelkreis vom Durchmesser des goldenen Majors des Bildmasses berührt den Stamm der Palme, während die Figuren eher frei auf den Kreis Bezug nehmen. Im originalen Format wäre die Palme ganz zu sehen 


)

 

 

 

Leonardo da Vinci, Madonna in der Felsengrotte (Paris)

 

Der kleine Johannes, eben in die Felsengrotte eingedrungen, wird von Maria ergriffen, mit einer anmutig-schönen Gebärde halb hergezogen, halb in die Knie gedrückt, und auf solche Weise ihrem gesegneten Sohne zugehalten.

     Auch dieses Bild gab ein Rätsel auf: wieso zeigt der Engel auf Johannes? Die oben erschlossenen Symbole führen zu einer einfachen Antwort: Leonardo, eben Meister geworden, aber noch am Anfang seiner Laufbahn stehend, präsentiert sich selbstbewusst im kleinen Johannes: durch die Künste und Wissenschaften ins Geheimnis der Natur (Felsengrotte) eingedrungen, weiss er sich von ihrer Schönheit und von ihrem lebendigen Wirken (Maria) ergriffen, und er fühlt sich, wissend anschauend, gläubig anbetend, ihrem Wesen (Jesus) nahe.

     Wenn der Jesusknabe das Wesen der Natur verkörpert, so Maria ihre Schönheit und ihr lebendiges Wirken. Dagegen mag der Engel die Schönheit und Wirkung des Bildes symbolisieren. Er blickt aus dem Gemälde hervor und sieht uns an, die wir als Augenzeuge einem geheimen Geschehen beiwohnen, das möglicherweise auf ein prägendes Jugenderlebnis von Leonardo, nämlich die Entdeckung einer Höhle anspielt.

     Mit seinen Augen wendet sich der Engel an einen Betrachter oder eine Betrachterin; mit seiner Hand hingegen zeigt er auf Johannes/Leonardo, den Maler dieses jugendlichen Meisterwerkes. Ähnlich wie Maria den kleinen Johannes aufnimmt, möchte uns der Engel mit seinem anmutigen Lächeln aufnehmen in den nach vorne offenen Kreis, der mit unserem verständigen Hinzutreten geschlossen werden mag.

 

 

 

Leonardo da Vinci (und Gehilfen?), Replik der Madonna in der Felsengrotte (London)

 

Als reifer Maler auf der Höhe seiner Laufbahn kann und will sich Leonardo nicht länger als Kind darstellen. Nun dürfen wir ihn im Engel vermuten, welcher zu Johannes hinüberblickt: aus Distanz, kritisch, aber mit stillem Wohlgefallen. So ähnlich mag Leonardo in jenen Jahren auf sich selbst als jungen Meister zurückgeschaut haben. Der Engel zeigt meiner Meinung nach eines der schönsten Gesichter, die Leonardo je malte 

 

Die Figuren rücken näher zusammen, sind grösser, bilden eine geschlossene Gruppe, genügen sich selber. (Wie schon die erste Fassung zeigt auch die Replik ein goldenes Format, aber während bei der Pariser Version eine mehrfache goldene Teilung des unteren grossen Quadrates von allen vier Seiten her zum Tragen kam, verwendet Leonardo in seiner Replik eine neue Idee: die Figuren fügen sich in jenen Mittelkreis des unteren grossen Quadrates, dessen Fläche die halbe Quadratfläche ausmacht.)

 

Meiner Meinung nach waren Raphael und Giorgione in den Jahren, als Leonardo seine Replik malte, oft in dessen Atelier, wo er ihnen seine Bilder gezeigt und erklärt haben dürfte. Giorgiones Drei Philosophen mögen auf diese hypothetischen Besuche in Leonardos Werkstatt zurückgehen: links in Giorgiones Bild der Eingang einer Höhle oder Felsgrotte, in Anspielung auf die Felsgrotten-Bilder Leonardos und sein prägendes Kindheitserlebnis? davor ein junger Philosoph, wohl ein Idealbildnis Giorgiones; stehend ein älterer Philosoph, das wäre dann Raphael; neben ihm ein greiser Philosoph, der Leonardo wiedergeben mag; die Alter der drei Figuren wären weniger realistisch denn als idealtypische Verkörperung dreier Lebensalter zu verstehen. In Rom malte Raphael seine Schule von Athen, worin er Plato die Züge Leonardos verlieh. Mit seiner rechten Hand weist der Philosoph nach oben, in seiner Linken hält er den Timaios, worin auch Proportionen zur Sprache kommen. Aristoteles streckt seine rechte Hand offen nach vorn, ähnlich wie Maria ihre linke Hand in beiden Versionen der Felsengrotte. Zudem erscheinen die Philosophen im Bogenrahmen eines Tores. Der junge Raphael blickt am rechten Rand aus dem Bild hervor, ähnlich wie der Engel in der Pariser Version der Madonna in der Felsengrotte; noch grösser, ja verblüffend ist die Ähnlichkeit, wenn man das Selbstportrait Raphaels in der Schule von Athen mit Leonardos Vorstudie für den Engel der Pariser Version vergleicht.

 

 

 

Melzi (?), nach Leonardo da Vinci, Johannes in der Einöde (Paris)

 

Johannes, am Ende seiner Laufbahn angekommen, zeigt mit seiner linken Hand in den Boden hinab und weist mit seiner rechten Hand schräg in die Höhe, so die Wege andeutend, welche die sterbliche Hülle und die als unsterblich gedachte Seele nehmen werden.

 

 

 

Leonardo, Johannes und die Nymphe am Ufer eines Flusses  (verschollen / Windsor RL 12581)

 

Als Leonardo Ende 1512 oder Anfang 1513 nach Rom kam, bezog er eine Raumfolge im Vatikanischen Belvedere. Er soll vom Papst einen Auftrag erhalten haben, worauf er sich ans Abkochen von Firnissen machte. Als dies dem Heiligen Vater zu Ohren kam, habe er ausgerufen: Dieser Mann wird nie etwas fertigstellen, denn er fängt mit dem Ende an!

     Was war geschehen? Ich vermute, dass Leonardo zwei Wandgemälde für den damaligen Audienzraum des Belvedere entwarf: Johannes und eine Nymphe, welche sich sowohl an lokalen Gegebenheiten orientieren als auch ganz eigene, kühne Ideen vorbringen sollten. Die Fenster von Leonardos Gemächern gingen auf Loggien, Wiesen, Büsche, Bäume und Bäche. Beim Passieren der Zimmer gelangte man von den Wohn- und Arbeitsräumen in den Audienzraum, anschliessend in eine gedeckte Loggia, in welcher antike Statuen zu sehen waren, danach in eine Sakristei und eine kleine, von Andrea Mantegna ausgemalte, Johannes dem Täufer geweihte Kapelle. (Heute gehören die Räume zu den Vatikanischen Museen, die Johannes-Kapelle und die Malereien von Mantegna gibt es nicht mehr, die Loggia wurde in einen Saal umgewandelt, eine Wand des ehemaligen Audienzraumes herausgebrochen, der Raum neu bemalt, und die Fenster gehen auf Häuser. Der ehemalige Audienzraum heisst heute Papageienzimmer)  Rekonstruktion des Belvedere um 1500 nach Sven Sandstroem 


 

     Beim Betreten des Audienzraumes erblickte man hinten eine wohl eher dunkle Wand, links und rechts hellere Wände, die für Gemälde in Frage kamen. Allerdings standen sie relativ nahe beisammen, so dass man die Wandgemälde nicht sehr gut von vorn betrachten konnte, während man sie beim Passieren des Raumes schräg zu sehen bekäme. Also keine günstigen Malwände. Aber Leonardo sollte eine geniale Lösung für das Problem finden 


     Johannes und die Nymphe zeigten sich an den gegenüber liegenden Ufern eines Flusses, welcher im Raum selber zugegen wäre und mit einem blaugrünen Teppich mit eingewirkten Fischen, Krebsen und Wasserpflanzen augenfällig hätte gemacht werden können.

     Begeben wir uns in den Raum hinein und wenden wir uns Johannes zu. Er sitzt auf einer natürlichen Felsbank, überschlägt seine Beine und stellt seinen rechten Fuss auf eine von sachten Wellen umspülte muschelförmige Steinplatte. In seinem linken Arm hält er einen Stab. Er neigt seinen Kopf, sieht nach vorn, blickt uns an. Mit seiner linken Hand zeigt er in den Boden hinab (Weg des sterblichen Körpers), mit seinem rechten Arm quer über die Brust nach links oben (Weg der Seele). Drehen wir uns. An der Gegenwand sehen wir die Nymphe in einem grösseren Rahmen. Was für eine sonderbare Frau! Mit ihrem ebenso fülligen, sinnlichen wie ätherischen Körper steht sie auf einer muschelförmigen Steinplatte am Ufer desselben Flusses, mehr schwebend als wirklich stehend, links von ihr ein Wasserfall, geschichteter Fels und hohe Blumen. Das nach rechts fliessende Wasser umspült den muschelförmigen Stein und bildet eine kleine Bucht - oder biegt es um die „Muschel“ ab und führt als Flussarm in die Tiefe des Bildraumes hinein? Rechts von der Nymphe sieht man nocheinmal grosse Blumen. Die Frau sieht uns an, lächelt ein lockendes, schon beinahe überirdisches Lächeln, und zeigt mit ihrem linken Arm nach rechts hinüber.

     Wir dürfen annehmen, dass beide Figuren von weiten Landschaften umgeben waren, welche gegen die Fenster hin offen und hell erschienen, gegen die Rückwand hin dunkel felsig.

     Kehren wir ans Fenster zurück und schauen wir die Gemälde von hier aus an. Der Rundblick führt vom Hellen ins Dunkle und wieder ins Helle. Wir sehen schräg auf die beiden Figuren, dennoch blicken uns beide geradewegs an. Diese optische Täuschung kennt man von vielen Jesus-Bildern. Es stellt sich aber eine weitere optische Täuschungen ein: Johannes zeigt mit seinem rechten Arm quer durch den Raum auf die Seite der Nymphe hinüber, diese mit ihrem linken Arm in die Tiefe ihres Bildraumes hinein! 


     Die Zeichnungen von Johannes und der Nymphe stammen aus dem Jahr 1513. Die beiden Figuren scheinen gegen 40 Jahre alt zu sein. Johannes wäre nocheinmal das alter ego von Leonardo, welcher damals 61 Jahre zählte, aber als Maler jünger war denn als Mann. Im Gegenzug dieser Verjüngung sieht man auf einer Naturstudie von 1513 einen Leonardo ähnlichen aber deutlich älteren Mann in einer ähnlichen Haltung wie Johannes auf einer Felsbank sitzen, diesmal von der Seite wiedergegeben (Windsor RL 12579 r, auf demselben Blatt meisterliche Studien von Wasserwirbeln).

     Der alte Mann hängt schweren Gedanken nach. Befasst er sich mit seinem nahenden Lebensende? Erinnert ihn der Fluss an Lethe? Wenn man den griechischen Fluss überquerte, erlangte man Vergessen. Dann gab es auch noch den Fluss Acheron und den Fährmann Cheron,  welcher die Lebenden am diesseitigen Ufer abholte, über das Wasser fuhr und im traurigen Schattenreich Hades absetzte. Aber war da nicht auch noch das Elysium, das Gefilde der Seligen? Wer führte dahin? ein Fährmann? oder vielleicht eine Nymphe? umgeben von grossen Blumen?

     Wäre eine Nymphe am Eingang zum Gefilde der Seligen ein Gegenbild zu Johannes am Ende seines Lebensweges? Aber wer denkt bei einer von Blumen umgebenen Frau an eine jenseitige Welt? Wie kann man eine solche evozieren? Vielleicht, indem man die Szene in ein geheimnisvolles Licht taucht? Und das gelingt wohl am besten mit mehreren Lagen spezieller Firnisse …

     Also hätte sich Leonardo, Erfinder der Luftperspektive, in sein Labor begeben und allerlei Kräuter abgekocht, mit Ölen vermischt, auf Probeflächen aufgetragen, mehrere Lagen verschiedener Öle auf Absorption und Reflexe hin geprüft, und hätte schliesslich wegen seiner langwierigen Experimente den Zorn des Papstes auf sich gezogen. Konnte er dem Kirchenmann erklären, was er wirklich vorhatte, und dass er sich Johannes den Täufer zum alter ego anmasste?

 

(Non mi legga chi non è matematico ... Masse für eine virtuelle Rekonstruktion des ehemaligen Audienzraumes und der hypothetischen aber wahrscheinlich nie ausgeführten Wandgemälde: braccio Fiorentino 58,36 cm; Raumlänge möglicherweise 12 bracci, Raumbreite 9,6 bracci, Wandhöhe 7,2 bracci. Wandhöhe / Raumbreite / Raumlänge = 3/4/5. Basishöhe der Lünetten 7,4 bracci. Diese Höhe steht zur Raumlänge im Verhältnis 37/60, gemäss der goldenen Zahlreihe 1, 4, 5, 9, 14, 23, 37, 60, 97 … Bildmass der Nymphe 5 mal 7 bracci, Rahmenstärke 0,2 bracci, Rahmenmass 5,4 mal 7,4 bracci, Rahmen auf dem Boden stehend, Oberhöhe des Rahmens 5,4 bracci oder 3/4 der Wandhöhe. Höhe der Zeigefingerkuppe 3,6 bracci = halbe Wandhöhe. Die Kuppe des Zeigefingers teilt sowohl die Bild- als auch die Raumlänge im goldenen Verhältnis und liegt auf der mittleren Augenhöhe des Johannes. Abstände der senkrechten Achsen beider Gemälde von der hinteren Wand 3,7 bracci. Die vertikalen Achsen werden einmal vom linken, einmal vom rechten Auge der Bildfigur markiert. Die waagrechten Achsen liegen auf der Höhe 2,7 bracci = 3/8 der Wandhöhe. Bildmasse des Johannes 25/7 mal 5 bracci, Rahmenstärke 0,15 bracci. Die Figuren auf der Bildfläche wären lebensgross, in ihren virtuellen Räumen etwas grösser. Bildformate 5:7. Die Figuren nehmen die stehende Ellipse im Format 4:3 ein und markieren den oberen Brennpunkt mit der Pupille des linken Auges (Nymphe) bzw. des rechten Auges (Johannes); den unteren mit den Auflagehöhen der Zehen des rechten Fusses (Nymphe) bzw. des rechten Fussballens und des unteren Stockendes (Johannes). Beide Figuren markieren die goldene Teillänge ihres Bildes: die Nymphe mit der Kuppe ihres Zeigefingers, Johannes mit seinem linken Ellbogen.

     Beide Bilder weisen komplexe Anlagen auf, die präzise eingehalten sind. Die Zeichnungen waren demnach kleine Kartons.

     Der Kern der Bildanlage besteht im Wesentlichen aus einer stehenden Ellipse der Masse 4 mal 3 grosse Einheiten oder 16 mal 12 kleine Einheiten in einem liegenden Oval der Masse 5 mal 7 grosse oder 20 mal 28 kleine Einheiten. Eine sehr einfache Hilfskonstruktion der Ellipse erhält man mit Kreisen um die Ecken eines liegenden Rhombus, der von vier rechtwinkligen Dreiecken der Masse 3-4-5 kleine Einheiten gebildet wird. Die Radien der Hilfskreise messen 3 und 10 kleine Einheiten. Die grossen Kreise ergeben zudem das liegende Bildoval. Die mathematisch genauen Brennpunkte der Ellipse erhält man als Schnittpunkte zweier Bögen vom Radius der halben Ellipsenhöhe um die Enden der waagrechten Ellipsenachse 


)

 

Die verschollene Zeichnung von Johannes und die erhaltene Zeichnung der Nymphe wären als Kernstücke zweier kleiner Kartons anzusehen. Die Gemälde wurden kaum realisiert, aber die Kartons mochten die Wände des Audienzraumes geschmückt haben.

     Wenn Sie mal in Rom sind, besuchen Sie bitte die Villa Farnesina und schauen Sie zu den beiden langen, von Raphael entworfenen und von seinem Schüler und Gehilfen Giulio Romano ausgeführten Deckenfresken in der Eingangsloggia hoch: In den Bildmitten werden Sie einen jungen Mann bemerken, der Johannes gleicht, und eine junge Frau, welche mit ihrem ausgestrecktem Arm nach rechts, bei schrägem Blickwinkel aber scheinbar quer über den Tisch weist (eine ähnliche Figur verwendete Giulio Romano später auch in Mantua).

 

 

 

Leonardo da Vinci, Johannes der Verkünder

 

Johannes, allein, halb nackt, mit umflorten Augen, steht vor einer dunklen Wand aus dichten Luftschleiern, welche seinen Körper schon halb einfangen und jeden Blick auf die Landschaft verwehren, höchstens mal die Ahnung eines Baumes und Gebüsches erlauben, sich aber gleich wieder verschliessen (während Kopien des Bildes wirklich eine Landschaft zeigen). Das Gemälde fand wenig Liebe und erregte offenen Widerwillen. Dieser Mann ist ein anderer als der biblische Täufer.

     Meiner Meinung nach stellt er nocheinmal Leonardo am Ende seiner Laufbahn dar, überdies vor seinem baldigen aber doch nicht mit dem Tag vorherzusagenden Ende seines Lebens, um eine Formulierung aus Leonardos Testament zu verwenden. Auch sein letztes Gemälde ist ein Vermächtnis. Leonardo wendet sich an seine Schüler. Johannes lächelt. Seine Stirne leuchtet hell. Er sieht aus, als ob er gleich den Mund öffnen und etwas sagen wolle. Doch als Bildfigur kann er nicht reden, also spricht er mit seinen Händen, wie es Italiener gerne tun. Mit dem leuchtenden Zeigefinger seiner rechten Hand weist er in die Höhe; mit seiner linken Hand hingegen, die nur schwach beleuchtet und halb vom rechten Arm verdeckt ist, auf die eigene Brust (wobei man bedenke, dass Leonardo Linkshänder war). Damit sagt er ungefähr das Folgende:

 

Gott hat die Welt erschaffen; ich, Leonardo, einst in sie hineingeboren, nun bald aus ihr scheidend, habe sie gesehen und erforscht. Vieles davon habe ich aufgezeichnet, gemalt und beschrieben, doch mein Werk ist unvollständig und nur ein schwacher Abglanz der Natur, der Schöpfung Gottes. - Meine lieben Freunde, ich werde euch bald verlassen, aber seid nicht traurig, wenn ich von euch gehe, und seht, ich bin es auch nicht, will es nicht sein; wenn ihr aber an mir einen grossen Künstler verliert, so haltet euch an den grössten aller Künstler, nämlich an Gott, und erforscht seine Schöpfung, die Natur, die alle menschlichen Werke an Glanz und Vollkommenheit übertrifft.

 

 

Es wäre eine ähnliche Rede, wie ich sie Andrea del Verrocchio zuschreibe, und wirklich gibt es einen schönen Zusammenhang zwischen der Taufe Jesu von Verrocchio und dem letzten Gemälde Leonardos. Als junger Schüler malte Leonardo seine erste Figur, den knienden, zu Johannes aufblickenden Engel. Als reifer Meister am Ende seiner Laufbahn malt er den Täufer. Doch die Szene des letzten Bildes, nämlich die Verkündung Jesu, käme unmittelbar vor der Szene des ersten Bildes, nämlich der Taufe Jesu. Auf diese Weise hätte Leonardo den Kreis geschlossen und gleichsam die Möglichkeit eines neuen Kreislaufs angedeutet.

 

 

 

 

 

 

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