Dante Alighieris moralisch-kosmologischer Traum, für
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[Fern-Referat für den Dante-Kurs an der Vilniaus pedagoginis universitetas, beginnend
im November 2003, vorzulesen:]
Dante Alighieris
moralisch-kosmologischer Traum
Eine illustrierte
Einführung
Von der Harmonie der himmlischen Sphären
Deus
est sphaera ... So sagte man im Mittelalter. Gott ist anwesend in der vollkommenen
Form der Kugel. Als Dante seine Divina
Commedia konzipierte, mag er sich auf diese Idee berufen haben. So meint
Professor Wilhelm Pötters vom Romanischen Seminar der Universität Würzburg. Er
befasst sich seit vielen Jahren erfolgreich mit Zahlen und Massen im Werk
italienischer Poeten. Auf Wilhelm Pötters genialen Einsichten aufbauend, wagt
der Autor des Referates [FG] eine Rekonstruktion des Universums in Dante
Alighieris Divina Commedia.
Das Bild zeigt den Kosmos, wie ihn Dante in
seiner halb poetischen, halb wissenschaftlichen Phantasie ersonnen haben
mochte. Im Zentrum der Kreise erblicken Sie eine winzig kleine Erde. Diese wird
von neun Sphären umgeben: Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn,
Fixsterne, Primum Mobile. Die blaue
Kugel wäre der physische Kosmos, umhüllt vom gelben Vorhimmel Empireo.
Zahlen spielen bei der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion
eine massgebliche Rolle. Aber seien Sie beruhigt: es sollen nur ein paar wenige
Zahlen zur Sprache kommen. Gerade so viele wie nötig sind, um Ihnen einen
Eindruck von der Grösse des Danteschen Kosmos zu vermitteln - und allenfalls
interessierten Studenten und Studentinnen eine reale oder, was sehr interessant
wäre, eine virtuelle Rekonstruktion zu ermöglichen.
Es folgen drei hypothetische, vom Autor rekonstruierte
und benannte Masseinheiten: gewöhnliche Meilen, poetische Meilen,
und kosmische Meilen. [Beim Vorlesen darf man sich ruhig mal versprechen
und komische Meilen sagen, es geht ja um eine Commedia, eine Komödie.]
Eine kleine gewöhnliche Meile messe 600 Meter. Eine
grosse gewöhnliche Meile messe zweimal so viel, nämlich 1,2 Kilometer.
108 kleine gewöhnliche Meilen oder 54 grosse
gewöhnliche Meilen ergeben eine kleine kosmische Meile, rund 65 Kilometer. Zwei
kleine kosmische Meilen ergeben eine mittlere kosmische Meile, rund 130
Kilometer. Drei kleine kosmische Meilen ergeben eine grosse kosmische Meile,
rund 194 Kilometer.
Das dritte Mass, die poetische Meile, liegt zwischen
der gewöhnlichen Meile und der kleinen kosmischen Meile. Man erhält eine
poetische Meile, indem man eine kleine, mittlere oder grosse kosmische Meile
mit 83 [dreiundachtzig] multipliziert und das Ergebnis durch 54 pi, 27 pi oder
18 pi teilt. Eine poetische Meile misst rund 32 Kilometer.
Damit sind alle Masse gegeben. Das Miteinander oder
meinetwegen Durcheinander von Zahlen mag unnötig kompliziert erscheinen, es
ermöglicht aber wunderbar einfache und elegante Berechnungen. Dies für jene,
welche sich auf die Zahlen einlassen mögen.
Wilhelm Pötters hat vorgeschlagen, dass die neun
Himmelsbahnen harmonisch ausgelegt sind: will heissen, die Flächen ihrer Kreise
stehen im Verhältnis 1 : 2 : 3 : 4 : 5 : 6 : 7 : 8 : 9 : 10. Sie können die
Harmonie erahnen, wenn Sie das Bild anschauen.
Die Radien dreier Bahnen lassen sich mit derselben
Zahl angeben: 7117 (sieben elf sieben), alle anderen Masse sind gute Näherungen
an ganze Zahlen. Der Radius der Mondbahn misst genau 7117 kleine kosmische
Meilen, jener der Sonnenbahn genau 7117 mittlere kosmische Meilen, und jener
der Bahn des Primum Mobile genau 7117
grosse kosmische Meilen.
Was heisst Primum
Mobile? Wir können es vielleicht als “Erstes Bewegendes” verstehen.
Mond, Sonne und Primum Mobile sind je
auf die Zahl 7117 bezogen. Dies lässt einen sinngemässen Zusammenhang erwarten.
Nehmen wir den Mond. Er strahlt ein schwaches Licht ab, einen Reflex des
ungleich viel stärkeren Sonnenlichtes. In ähnlicher Weise mag die energiereiche
Sonne ein schwacher Reflex einer sehr viel grösseren, wenn auch unsichtbaren
Energie sein, welche vom Primum Mobile
ausginge.
Aber was wäre das für eine Energie? Lesen wir die
letzte Zeile der Divina Commedia:
Zeile 14’233 l'amor che move il sole e l'altre
stelle.
Die Liebe, welche die
Sonne und alle Sterne bewegt - so wäre das Primum
Mobile wohl die Liebe, im Griechischen der Eros, welcher als Urkraft
alle Elemente zusammenhält und dem Chaos entgegenwirkt.
Gehen wir über zum nächsten Bild:
Luzifers Aufstand und sein Fall ins Zentrum der Erde
Unter den himmlischen Heerscharen gab es einen Engel
namens Luzifer. Dieser wollte sich über Gott erheben. Doch der Erzengel
Michael verhinderte einen Aufruhr. Er stürzte Luzifer aus dem Himmel. Der
Unglückliche fiel durch die neun Sphären des Primum Mobile, der Fixsterne, der Planeten Saturn, Jupiter, Mars,
der Sonne, der Planeten Venus, Merkur, und schliesslich des Mondes: hinab auf
den Nordpol der Erde, wo er mit solcher Wucht aufschlug, dass er bis ins
Innerste der Erdkugel drang. Auf diese Weise bildete er einen riesigen Krater,
während die verdrängten Erdmassen den Südpol mächtig anhoben, so dass die
südliche Hemisphäre einen grossen Berg formt.
Auf dem Bild sehen Sie die defigurierte Erde. Eine
weisse Linie markiert den Äquator. Oben sehen Sie die gestauchte nördliche
Hemisphäre. Ein kürzerer schwarzer Bogen lässt den Trichter erahnen. Vielleicht
erkennen Sie auch den Namen Italy, in
weissen Buchstaben auf dem grauen Erdkörper. Unten sehen Sie die spitz
ausgestülpte südliche Hemisphäre als mächtigen, kreiselförmigen Berg.
Gehen wir über zum nächsten Bild:
Inferno 1, Gegenhimmel zur Sphäre 9 des Primum Mobile
Der Querschnitt der verformten Erde zeigt sehr klar
den trichterförmigen Krater: rund einwölbend, oben weit, unten schmal.
Luzifers Sturz drückte den Nordpol ins einstige
Zentrum der Erde hinab. Dort befindet sich der gefrorene See, blau am Boden des
Höllentrichters. Auf diesem Eis wohnt Luzifer.
Der Radius der Erde misst 99 kleine kosmische Meilen,
der Durchmesser des Äquators 198 kleine kosmische Meilen, der Umfang 622 kleine
kosmische Meilen. Die Radien der Trichterbogen messen 869/18 kleine kosmische
Meilen, der Radius des gefrorenen Sees am Grund des Höllentrichters misst 44/18
oder 22/9 kleine kosmische Meilen. Zusammen ergeben die vier grossen und zwei
kleinen Radien 198 kleine kosmische Meilen.
Die Luft über dem gefrorenen See bildet einen
Gegenhimmel aus neun angeschnittenen Sphären. Deren Radien, vom einstigen
Mittelpunkt der Erde aus abgetragen, messen von Innen nach Aussen 11, 22, 33,
44, 55, 66, 77, 88, 99 kleine kosmische Meilen.
Die neun Sphären der Luft
im Trichter bilden wie gesagt einen Gegenhimmel. Das Wort Gegenhimmel ist bewusst gewählt. Hierin
liegt der Ansatz einer neuen Deutung der Divina
Commedia: wir können die Höllensphären auf die himmlischen Sphären beziehen
und von den Namen der Himmelskörper auf die Bedeutung der Inferni schliessen!
Dante verirrt sich auf seinem Spaziergang in einen
dunklen Wald. Er schläft ein. Als er erwacht, gerät er in eine fremde Welt. Wir
dürfen annehmen, dass er nicht wirklich aufwacht sondern in einen Traum
hinein „erwacht“. In diesem Traum gelangt er an einen tiefen Krater in Form
eines Trichters, dessen Wände sich erst kaum merklich neigen, aber später immer
steiler abfallen. Auf seinem Weg ins Innere des Höllentrichters begegnet Dante
seinen grossen wenn auch heidnischen, deshalb in der Hölle angesiedelten
Kollegen Homer und Vergil. Diese begleiten ihn je ein Stück auf seinem Weg.
Wenn das hier vorgestellte Modell der Hölle zutreffen sollte, kämen sie rasch
voran. Sie mögen ähnlich wie Hermes in der Odyssee auf geflügelten Füssen
einherschreiten oder besser schweben. In derselben Zeit in der wir gewöhnlichen
Menschen zehn grosse gewöhnliche Meilen oder rund 12 Kilometer zurücklegen,
kämen die Dichter in Dantes Traum zehn poetische Meilen oder rund 320 Kilometer
voran. Dieses Tempo erlaubt ihnen ein spiralförmiges Umkreisen der Inferni.
Auf dem Bild sehen Sie die Erde in roter Ockerfarbe,
die äusserste Höllensphäre in Grau. Blicken Sie genau hin. Dante ist ein
frecher Kerl. Er versetzt uns Europäer in die Hölle. Inferno 1 erstreckt sich
nämlich vom Äquator bis ungefähr zum Polarkreis!
Die äusserste Höllensphäre – für Dante und für uns die
erste, darum Inferno 1 – entspricht dem Primum
Mobile, der kosmischen Sphäre 9, der äussersten Schale des physischen
Kosmos.
Auf der Erde, zwischen Äquator und Polarkreis, gibt es
auch ein Primum Mobile. Dante benennt
es: lonza leone lupo – Panther Löwe
Wolf. Diese drei Tiere sollen Wollust, Hochmut und Habsucht symbolisieren.
Im ersten Höllenkreis siedelt Dante eine Reihe
berühmter Männer an, welche als Primum
Mobile der antiken Geistesgeschichte gelten dürfen. Unter ihnen befinden
sich Sokrates und Plato. Von Sokrates kennen wir einen berühmten Satz, der
allerdings meist nur halb zitiert wird. Hier der ganze Wortlaut: Ich weiss dass ich nichts weiss, ausser
von der Liebe. Sokrates war der Lehrer Platos. Wenn Sie Platos
berühmten Dialog Timaeus lesen,
werden Sie den Ursprung vieler Ideen in der Divina
Commedia wiederfinden, so die Kugelform des Universums und die grosse
Bedeutung von Zahlen.
Es sei aber nicht verschwiegen, dass die Divina Commedia Widersprüche aufweist.
Wir erfahren zum einen, dass Luzifer den Höllentrichter schuf. Die Inschrift am
Höllentor besagt allerdings, dass die Hölle von
der Allmacht Gottes, der höchsten Weisheit und ersten Liebe geschaffen sei.
Wie können wir diesen krassen Widerspruch erklären? Wenn Gott wirklich der
Allmächtige ist, so hat er alles geschaffen, auch den Engel Luzifer, den
Träger des Lichtes, und wenn Gott wirklich der Allmächtige ist, so verantwortet
er auch den Aufruhr Luzifers und seinen Höllensturz …
Dies mag aus der göttlichen Perspektive verständlich
sein, aus unserer menschlichen Perspektive ist es unvereinbar.
Es ist wirklich ein harter Brocken, dass die höllische
Welt in der Divina Commedia von der
göttlichen Allmacht, der höchsten Weisheit und ersten Liebe geschaffen sein
soll. Da stellt sich die Theodizee in
ihrer ganzen Schärfe. Wie kann der allmächtige Gott gut sein, wenn er so viel
Leid zulässt?
Wir sollten freilich bedenken, dass wir beim Lesen des
Poems in einen Traum hineingezogen werden, in dem alles möglich ist, in dem
alles falsch und doch richtig sein kann, in dem Widersprüche einander nicht
ausschliessen sondern ergänzen. Wir dürfen auch annehmen, dass der Dichter
seinen Schalk mit uns treibt, obschon es grimmige Scherze sind. Zum Beispiel,
wenn er uns Europäer in seine erste Hölle steckt. Auf solche Weise nimmt er den
späten Mark Twain vorweg, der in seinem frühen Leben viel Glück hatte, in
späteren Jahren aber eine Reihe harter Schicksalsschläge erleben musste, an
denen er zum Teil nicht ganz unschuldig war, und dann eine bittere Erkenntnis
formulierte: It is an odious world, a
horrible world. It is Hell; the true one [Justin Kaplan, Mark Twain and His World, Simon and
Schuster New York 1974; page 162]. Wie sind wir in diese „Hölle“ hineingeraten?
Indem wir geboren sind! Schopenhauer könnte es nicht grimmiger sagen. Im Leben
werden alle schuldig, einzig die Ungeborenen bleiben ohne Schuld: jene, die
weder gut noch bös waren; alle anderen überqueren den Acheron und kommen in den
Hades, die Hölle, in eines der 9 Inferni. Allein die Ungeborenen bleiben von
der Hölle verschont, während die Geburt unweigerlich zur Sünde und damit in die
Hölle führt. Also wäre eigentlich schon die Geburt eine Überquerung des
Acheron! Das ist so derb, dass es komisch und satirisch gemeint sein dürfte.
Der Titel Divina Commedia verspricht
ja eine Komödie. Dante muss einen Heidenspass gehabt haben, als er in seinem
poetischen Traum alles auf den Kopf stellte und seine Widersacher reihenweise
in die Hölle schickte. Aber er verschont auch sich selber nicht. Er deutet an,
dass er zu den beiden einzigen Gerechten auf dieser Welt gehöre. So kann er
sich als Weltenrichter aufspielen. Damit begeht er allerdings eine in der Divina Commedia als besonders schwer
geltende Todsünde, nämlich Hochmut. Aber es gibt Hoffnung für den
sündigen Poeten. Er kann aus der Hölle fliehen, erklimmt den Läuterungsberg,
wird von Beatrice empfangen, und gemeinsam schweben die beiden in die
himmlischen Sphären hinauf. Die Liebe überwindet alles, und, wie Goethe später
in seinem Faust schreiben sollte: Wer immer strebend sich bemüht / Den können
wir erlösen.
Gehen wir über zum nächsten Bild:
Inferno 2, Gegenhimmel zur Sphäre 8 der Fixsterne
Der zweite Höllenkreis beginnt ungefähr auf der
geographischen Breite des Polarkreises, wo den ganzen Winter über Nacht
herrscht, und reicht bis fast zum nördlichen Pol-Ring der verformten Erde.
Inferno 2 entspricht der kosmischen Sphäre der
Fixsterne, die wohl ähnlich wie bei Aristoteles an einer unsichtbaren kristallenen
Schale hängen. Aber Dante sieht auf seinem Weg keine Sterne, an ihrer Stelle
Schwärme dunkler Vögel.
In diesem Höllenkreis begegnen wir anderen Figuren aus
der klassischen Welt, zum Beispiel der schönen Helena und Paris, welche mit
ihrer Liebe den Trojanischen Krieg auslösten. Helena und Paris mochten in
früheren Zeiten eine ähnliche Rolle spielen wie unsere heutigen Filmstars, in
wörtlicher Übersetzung: Film-Sterne. Als es kein Kino und Fernsehen gab,
schauten die Menschen in den prächtigen Sternenhimmel hinauf, sahen darin
Figuren und Szenen, und erfanden Geschichten, die sie in filmreifen Mythen
überlieferten. Ihre „Leonardo di Caprios“ und „Kate Winslets“ waren als
wirkliche Sterne am Himmel zu sehen …
Inferno 3, Gegenhimmel zur Sphäre 7 von Saturn
Inferno 3 liegt ganz im Norden der verformten Erde und
bildet den Gegenhimmel zur kosmischen Sphäre des Planeten Saturn. Saturn war
der hochverehrte latinische (aus Latium stammende) Gott der Römer, welcher das
Goldene Zeitalter Roms begründete. Im Gegenhimmel von Luzifer kann von einem
Goldenen Zeitalter keine Rede sein, ganz im Gegenteil, wir kommen jetzt
wirklich in die Hölle, denn dieser infernalische Gegenhimmel wird vom
Höllenhund Cerberus bewacht.
Inferno 4, Gegenhimmel zur Sphäre 6 des Jupiters
Der Besuch der vierten Höllensphäre beginnt mit dem
enigmatischen Ausruf pape satan, pape
satan aleppe. Inferno 4 ist Luzifers Gegenhimmel zur kosmischen Sphäre des
Jupiters. Dessen griechischer Name war Zeus. Die Eingangsworte sind nach
Meinung des Autors eine Anklage Dantes an Papst Bonifaz VIII, welcher Dante im
Jahr 1302 aus der Toskana verbannte. Im selben Jahr schrieb Papst Bonifaz die
Bulle Unam Sanctam „mit der schroffsten
Formulierung des päpstlichen Weltherrschaftsanspruches“ [dtv-Atlas der
Weltgeschichte 1998]. Bonifaz starb im Jahr 1303. Dante schrieb sein Poem von
1311 bis 1321. Er versetzte seinen verstorbenen Widersacher in den vierten
Höllenkreis, den Gegenhimmel zur Sphäre von Jupiter/Zeus. Mit seinem
bitterbösen Gruss wirft er ihm vor, dass er als Papst das Haupt der
Christenheit zu sein vorgab, während er in Wahrheit regierte wie ein
heidnischer Gott, wie Zeus im alten Griechenland, wie Jupiter im alten Rom.
Inferno 5, Gegenhimmel zur Sphäre 5 des Planeten Mars
Inferno 5 ist Luzifers Gegenhimmel zu der vom Mars
eingenommenen kosmischen Sphäre 5. Mars war der Kriegsgott. In diesem
Höllenkreis stossen wir auf die Garnison DIS – ein sonderbarer Name, der aber
im Hinblick auf Mars eine leichte Erklärung findet: es ist die Silbe Dis
wie zum Beispiel in Dis-sonanz, oder, im Englischen, dis-agree, dis-accord,
dis-sension.
Inferno 6, Gegenhimmel zur Sphäre 4 der Sonne
Die kosmische Sphäre 4 gehört der Sonne. Was finden
wir in Luzifers Gegenhimmel? Särge und ein blindes Gefängnis. Weder in den Sarg
noch in eine fensterlose Zelle dringt ein Sonnenstrahl.
Aber es gibt ein Zeichen der Hoffnung: einen süssen Lichtstrahl und ein alles sehendes Auge – Hinweise auf
Beatrice, die grosse Liebe Dantes? Beatrice wird den Dichter nach seinem
Höllentrip und Aufstieg auf den südlichen Berg empfangen.
Inferno 7, Gegenhimmel zur Sphäre 3 der Venus
Venus war die Göttin der Liebe. Im Gegenhimmel
Luzifers gibt es keine Liebe, oder nur in pervertierter Form. So erfährt Dante
beim Begehen dieses Höllenkreises, dass die Erde bei Luzifers Sturz vom Himmel
und Eindringen in die Erde gestöhnt und geseufzt haben soll, als ob sie Liebe empfände.
Inferno 8, Malebolge,
Gegenhimmel zur Sphäre 2 des Merkurs
Die Wände dieses Höllenkreises fallen steil ab. Es
wird düster. Wir nähern uns dem Boden des Trichters. Inferno 8 heisst Malebolge. Dieser Höllenkreis ist
Luzifers Gegenhimmel zur Sphäre 2 des Planeten Merkur. Der römische Gott Merkur
war dieselbe Person wie der griechische Gott Hermes, welcher in Homers Odyssee
eine wichtige Rolle spielt. Homer nennt ihn argeiphontes,
den argusäugigen, wachsamen Schlangen- und Drachentöter, was man wohl im
politischen Sinne verstehen kann. Aber hier gibt es keinen Drachentöter,
obschon es dringend einen solchen brauchen würde, wird doch der Malebolge wird von einer Schlange oder
einem Drachen regiert!
(Meiner Meinung nach war Hermes in der Odyssee das
alter ego Homers, welcher sich als Dichter ebenso rasch voranbewegt wie der
Gott auf seinen geflügelten Füssen, ein alter ego des Poeten, welcher seine
Figuren nach freiem Belieben in Schlaf versetzen oder wecken kann, allerlei
Scherze mit seinen Lesern treibt, welcher die einfache Arbeit edelt und aus
einem Schweinehirten die anrührendste Figur des Epos macht, und welcher mit
seiner Dichtung ein politisches Ziel verfolgte, nämlich eine Einigung
Griechenlands im Geiste früherer Zeit. Homer 1 / Homer 2)
Bei der Beschreibung des Malebolge liefert uns Dante eine seiner spärlichen Angaben zu den
Massen des Inferno bzw. der verformten Erde: der obere Kreis des Malebolge habe einen Umfang von 22
Meilen: volge 22 miglia, der untere
einen Umfang von 11 Meilen: volge 11
miglia. Es wären poetische Meilen, da sie von den Flügelschritten Dantes
und Vergils ausgemessen werden, das heisst eine miglia würde rund 32 Kilometer messen, der Umfang der oberen
Trichteröffnung 704 km, jener der unteren Öffnung 352 km.
Inferno 9, Gegenhimmel zur Sphäre des Mondes
Wenn Dante und sein Begleiter Vergil den Malebolge passieren, sehen sie den Mond
–- unter ihren Füssen! Wie kann das zugehen? Sie sehen offenbar die Spiegelung
des Mondes in der glatten Spiegelfläche des gefrorenen Sees am Grund des Höllentrichters.
Bei der Begehung von Inferno 9 vernehmen wir, dass schon mancher Mond in das
unterste Inferno hinabgeschienen habe. Das bleiche Licht des Mondes und der
gefrorene See passen zueinander.
Verformte Erde, Inferno 1-9, Eissee, Berg der südlichen
Hemisphäre
Nachdem wir die einzelnen Höllenkreise besprochen
haben, soll das neue Bild alle grau getönten Höllenkreise vereinigen. Da die
hintere Wand des kreisrunden Trichters nicht länger sichtbar ist, gewinnt die
verformte Erde eine eigentümliche Gestalt: sie gleicht einem –- Herz!
Das ist kein Zufall, denn in der Divina Commedia finden wir sowohl am Ende als auch in der Mitte
Hinweise auf die Liebe, die wir gewöhnlich und von alters her mit dem Herzen
verbinden.
Bedenken Sie bitte die letzte Zeile der Divina
Commedia:
Zeile
14’233 l'amor che move il sole e l'altre stelle
Die Liebe, welche die Sonne und die anderen Sterne
bewegt ... So finden wir am Ende des Gedichtes eine Erklärung für das Primum Mobile: es ist die Liebe,
die nächste Sphäre zum Vorhimmel Empireo!
Die Liebe gibt uns ein Vorgefühl der himmlischen
Freuden. Sie belebt und bewegt unsere Geschicke.
Aber leider leben wir nicht in der Sphäre des Primum Mobile, sondern im ersten
Höllenkreis, im Inferno 1, das sich vom Äquator bis ungefähr zum Polarkreis
ausdehnt. Anstelle des Primum Mobile,
der weltbewegenden Liebe, regieren bei uns Menschen lonze leone lupo – bare Wollust; Stolz und Arroganz; Habgier und
Geiz.
Und jetzt lesen Sie bitte die drei mittleren Zeilen
des Poems:
Zeile 7116 Questo triforme amor qua giu di sotto
Zeile 7117 si piange: or vo' che tu de l'altro intende,
Zeile 7118 che corre al
ben con ordine corrotto.
Dante beklagt eine dreiförmige Liebe, die in die Irre
ging, und er spricht von wahrer Liebe, die in korrupten Zeiten zum Scheitern
verurteilt ist.
Wir erfahren von der falschen Liebe im Zentrum des
langen Gedichtes, von der wahren Liebe in der letzten Zeile:
Zeile 14’230 A l'alta fantasia
qui manco possà
Zeile 14’231 ma giù volgeva il mio disio e il
velle,
Zeile 14’232 sì come rota ch'igualmente è
mossa,
Zeile 14’233 l'amor che move il sole e l'altre
stelle.
Wilhelm Pötters machte den Autor des Referates auf die
zentrale Silbe des Poems aufmerksam. Es ist ein kurzes Wort, nämlich tu = Du, Leser, oder Du, Leserin.
Wir sind angesprochen. Das Gedicht handelt von uns Bewohnern und
Bewohnerinnen des ersten Höllenkreises, welcher sich vom Äquator bis etwa zum
Polarkreis erstreckt. Wir leben in dieser ersten Hölle, die einzige Rettung ist
Liebe, wahre Liebe, welche allerdings immer in Gefahr ist, wie wir in der Mitte
des Poems erfahren. Selbst eine grosse wahre Liebe kann an den korrupten
Verhältnissen scheitern, denn unsere Welt, so schön sie wirken mag, ist in
Wahrheit der erste Kreis der Hölle, jedenfalls in Dantes Traum.
Gibt es keine Hoffnung? Doch. Wir erfahren von
Beatrice, und von einem geheimnisvollen himmlischen Boten. Beatrice war die
grosse wenngleich unerfüllte Liebe Dantes und mag für unsere grossen Lieben
stehen, ob erfüllt oder unerfüllt.
Was aber hat es mit dem geheimnisvollen Boten auf sich,
dessen Name eine sonderbare lange Zahl ist? Wilhelm Pötters konnte diese Zahl
entschlüsseln: sie gibt an, woher der Bote kommt, nämlich aus dem Vorhimmel Empireo, und zwar aus einem Bereich
unmittelbar jenseits des physischen Kosmos. Demgegenüber dürfte Beatrice aus
der Sphäre des Primum Mobile kommen,
und zwar in analoger Weise aus einer Region in unmittelbarer Nähe des Empireo. Er ist ein göttlicher
Bote, sie eine Botin der Liebe.
Eine weitere Hoffnung gibt uns die verformte Erde
selber: sie bildet ein Herz, ein Hinweis auf die Rettung, welche Liebe
heisst, und bei allen Beziehungsproblemen,
wie wir heute sagen, doch immer wieder als himmlisches Glück und Gnade erfahren
wird.
Die Erde selber wehrt sich gegen das Eindringen des
Luzifer und gibt zugleich mit ihrer neuen Form das Mittel an, wie sie von ihrem
bösen Gast befreit werden kann: mit Liebe, wahrer Liebe. Diese mag Liebesarbeit
einschliessen, oder, wenn man ganz nüchtern sein will und auch einen Biologen
wie Richard Dawkins, Autor des Buches The
Selfish Genes gewinnen möchte, in vielfältiger Kooperation.
Aber kehren wir zu Dantes Traum zurück. Er hat also
den Boden des innersten Infernos erreicht, und er kann glücklicherweise
fliehen, indem er einen Tunnel findet, welcher ihn auf geradem Weg zum Äquator
führt. Von da aus beginnt er seinen Aufstieg des südlichen Himmelsberges, dem
mächtig angehobenen Südpol. Auf der Kuppe des Berges findet er Beatrice, seine
grosse Liebe. Sie nimmt ihn bei der Hand, und gemeinsam schweben sie in den
Himmel hinauf.
Blick vom Himmel auf die südliche Hemisphäre
Der Dichter entschwebt in den Himmel, an der Hand
seiner geliebten Beatrice. Er sieht die südliche Hemisphäre, den gigantischen Berg,
von oben herab.
Wir Bewohner der nördlichen Hemisphäre bleiben zurück.
Immerhin leuchtet uns ein Lichtstrahl. Wir dürfen auf den schon erwähnten
himmlischen Botschafter aus dem Empireo
hoffen. Er wird uns eine göttliche Botschaft bringen, welche, so dürfen wir
erraten, die Erde von der Herrschaft Luzifers befreit, und ihre einstige, von
Gott gewollte und selber göttliche Kugelform wiederherstellt, so dass das Primum Mobile beziehungsweise die Liebe,
welche Sonne und Sterne bewegt ihren Segen auf die Erde ausüben kann. Wobei man
die Liebe im weitesten Sinne verstehe möge, wie die frühen Griechen den Eros.
Schauen wir nocheinmal die Zahlen an. Die mittlere
Zeile hat die Nummer 7117. Sie mögen sich vielleicht erinnern, dass der
Dantesche Kosmos in der vorliegenden Rekonstruktion einen Radius von 7117
grossen kosmischen Meilen aufweist. Der Durchmesser des Kosmos wäre 2 x 7117 =
14'234 grosse kosmische Meilen. Jetzt vergleichen Sie bitte diese Zahl mit der
Zahl der Zeilen: das Gedicht weist 14’233 Zeilen auf, eine weniger als der
Durchmesser des Kosmos in grossen kosmischen Meilen.
Was dies bedeuten mag?
Das Poem ist unvollendet, es fehlt eine Zeile, die
wichtigste von allen, die eine und einzige Zeile, die nur der göttliche Bote
aus dem Empireo einfügen kann ---
womit er das Werk vollendet, womit er die kosmische Zahl 14,234 herstellt,
womit er die gequälte Erde in ihre wahre Form zurückführt, womit er die
einstige Harmonie der Himmelssphären wiederherstellt, womit er dem Primum Mobile, der weltbewegende Liebe,
ihren segensreichen Einfluss auf die Erde ausüben lässt. Sie soll kein
holperiges Rad mehr sein, sie soll rund laufen, an der Harmonie der himmlischen
Sphären teilnehmen.
Die hundert Gesänge der Divina Commedia enden in Zeilen grosser, bisweilen betörender
poetischer Kraft. Auf ähnliche Weise würde die Meldung des göttlichen Boten das
Gedicht beenden: mit einer einzigen erlösenden Zeile.
Aber können wir allen Ernstes auf einen göttlichen
Boten hoffen? Die Divina Commedia ist
ein Traum, der göttliche Bote ein Wunschtraum. Wir werden wohl die erlösende
Zeile selber schreiben müssen, und weil wir nicht über die göttliche Einsicht
jenes himmlischen Boten verfügen, schreiben wir anstelle einer Zeile Bücher über Bücher. Wir mühen uns lebenslänglich ab, und
kommen doch nur in kleinen Schritten voran.
Es ist wie beim Berechnen der Kreiszahl pi. Mit viel
Aufwand finden wir einen brauchbaren, einen guten, ja sogar einen sehr guten
Wert für diese geheimnisvolle kleine Zahl. Es bleibt nur ein minimer Fehler. Aber
wenn wir diesen beheben wollen, erweist sich ein winzig kleiner Schritt als
mühsamer denn alle vorherigen Schritte zusammen ... Am Ende seiner Divina Commedia spricht Dante auch
wirklich von der schwierigen oder gar unmöglichen Berechnung des Kreises.
Aber so schwer und endlos die Aufgabe ist, und obschon
wir kaum jemals die erlösende Zeile finden werden, kommen wir doch immer wieder
ein gutes Stück voran. Man bedenke, wie viel besser wir heutigen Europäer leben
als die Menschen im Mittelalter. Wir haben eine vormals undenkbare Freiheit
errungen, die wir den Büchern vieler gescheiter Menschen verdanken. Questo triforme amore – von hier aus ist
es nicht so weit bis Freud, welcher auch an jener „Zeile” schrieb. (Das Tier leone soll den Hochmut symbolisieren.
Wir begegnen ihm gleich im ersten Gesang. Da ist er ein Tier von gierigem Hunger. Freud würde von der oralen Phase reden. Das Tier lupo soll Habsucht und Geiz darstellen.
Diese Charakterzüge verweisen bei Freud auf die anale Phase. Das Tier lonza
soll die Wollust darstellen. Freud würde hier von der phallischen Phase reden. Die dreifache Liebe, die falsch ging,
wären nach psychoanalytischem Verständnis Regressionen der reifen Sexualität
auf ihre frühen Stufen.) Auf den Kosmologen Dante folgten Kepler, Galilei,
Newton, Einstein und viele andere, welche uns den Kosmos besser verstehen
lehrten und an der fehlenden „Zeile” weiterschrieben. Eine endlose Zeile für
uns Menschen, elf gesprochene Silben für einen göttlichen Boten, wenn es ihn
denn gäbe.
An dieser Stelle sei das Referat beendet. Es mag Ihnen
helfen, das Poem neu zu lesen. Sie haben gleichsam die Bühne kennengelernt, auf
welcher Dante Alighieri seine Figuren ansiedelt.
Eine Bühne, welche er vielleicht in Form eines
grossen, bemalten, aufklappbaren Holzmodells vor Augen hatte? Wer sich für
Zahlen interessiert und allenfalls ein reales oder virtuelles Modell der
verformten Erde nachbilden möchte, sei auf das Dante-Kapitel auf des Autors
Webseite verwiesen: Dante
Im Weiteren sei Ihnen allen ein wunderbares Büchlein
zur Lektüre empfohlen: Wilhelm Pötters, Nascita
del sonetto, Metrica e matematica al tempo di Federico II, Presentazione di
Furio Brugnolo, Longo Editore Ravenna 1998. Es ist ebenso tiefsinnig wie
einfach zu lesen, leicht zu verstehen, und sehr schön illustriert.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, im Namen von Franz
Gnaedinger
Zürich, 30. Januar 2004