STAMMBRÜCHE 2
Franz Gnaedinger, Zürich, März/April 1997
Manche Autoren sind vom Papyrus Rhind (RMP), vom Moskauer
Papyrus (MNP) und von den anderen mathematischen Schriften aus
dem alten Aegypten enttäuscht, weil sie kaum über ein
Anfängerwissen hinausgehen oder hinauszugehen scheinen.
Dieser Eindruck kommt zustande, wenn wir die Aufgaben in
herkömmlicher Weise als Rechenübungen ansehen. Wenn wir
sie dagegenals Formeln oder Formelsprüche auffassen,
so kommen wir raschin höhere Gefilde. Beispielsweise
über 6 MMP:
A sei die Fläche eines Rechteckes. Die kürzere Seite sei f mal
die längere Seite. Diese ist g mal die kürzere Seite. f mal g
ist 1. Wie lang sind die Seiten? Mach es so:
a) A und f sind gegeben, finde g
b) Rechne A mal g
c) ziehe die Wurzel aus dem Ergebnis
d) multipliziere das Ergebnis mit f
A sei 12 und f sei 1/2 1/4.
Wir bekommen
a) g = 1 1/3
b) 12 x 1 1/3 = 16
c) 16 = 4 x 4
d) 4 x 1/2 1/4 = 3
Folglich messen die Seiten 3 und 4 Einheiten.
Was bekommen wir bei anderen Zahlen? beispielsweise wenn
A = 6 und f = 1/3 ? Wir rechnen so:
a) f x g = 1, 1/3 x 3 = 1, g = 3
b) A x g = 6 x 3 = 18
c) 18 = 3 x 3 x 2, lange Seite = 3 Wurzel 2
d) kurze Seite = 1/3 lange Seite = Wurzel 2
Die Wurzel 2 approximieren wir mit einer Zahlsäule, deren
erste (hier nebeneinander geschriebene) Zeilen so lauten:
1-1-2, 2-3-4, 5-7-10, 12-17-24, 29-41-58, 70-99-140,
169-239-338, 408-577-816, 985-1393 ... Die Zahlen 17 und 12
finden sich in der Djoser-Anlage in Sakkara (nach Wolf Meyer
Christian), das Verhältnis 99/70 war dem Baumeister des Cheops
geläufig, während 1393/985 im babylonischen Zahlsystem 1,24,
51,10 ergibt. Eben diese Zahl findet sich auf dem babylonischen
Täfelchen YBC 7289 aus der Zeit um 1600 v.Chr.
Berechnen wir die Seitenlängen des obigen Rechteckes mithilfe
des Wertes 17/12 = 1 1/4 1/6, so bekommen wir
A) lange Seite = 3 x 1 1/4 1/6 = 4 1/4
B) kurze Seite = 1 1/4 1/6
C) Fläche = 6 1/48 oder praktisch 6
Berechnen wir die Seitenlängen mit 99/70 = 1 1/5 1/7 1/14,
so bekommen wir
A) lange Seite 4 1/5 1/35 1/70
B) kurze Seite 1 1/5 1/7 1/14
C) Fläche 6 1/1633,333 oder praktisch 6
Wenn wir auch noch die Länge der Diagonalen erfahren wollen,
so finden wir bei den Seitenlängen 3 und 4 in Formel 6 MMP
die Diagonale 5, gemäss dem Heiligen Dreieck 3-4-5. Wie sieht
bei unserem Beispiel aus? Die Diagonale misst Wurzel (18 + 2)
= Wurzel 20 = 2 Wurzel 5. Wurzel 5 approximieren wir mit einer
analogen Zahlsäule, die mit der Zeile 1-1-5 beginnt und
beispielsweise auf die Zeilen 4-9-20 und 72-161-360 führt.
Berechnen wir die Diagonale des zweiten Rechteckes mithilfe
von 9/4 = 2 1/4 und 161/72 = 2 1/6 1/24 1/36, so bekommen wir:
kurze Seite = 1 1/4 1/6
lange Seite = 4 1/4
* Diagonale = 4 1/2
oder
kurze Seite = 1 1/5 1/7 1/14
lange Seite = 4 1/5 1/35 1/70
* Diagonale = 4 1/3 1/8 1/72
Milo Gardner aus Sacramento, Kalifornien, weckte mein Interesse.
für die Stammbrüche. Er besteht auf exakten Multiplikationen
mit ihnen. Er hält die Zahlentheorie für ihren wichtigsten
Aspekt und gab mir beispielsweise die Konversion 1/13 = 1/14
1/182 zu bedenken. Wie erklärt man eine solche Schreibweise?
Ich versuchte es mit einer Zahlsäule und fand ein einfaches
Schema:
-------- 1 = '2 '2 (zu lesen als 1/1 = 1/2 + 1/2)
------- '2 = '3 '6 (zu lesen als 1/2 = 1/3 + 1/6)
------- '3 = '4 '12
------- '4 = '5 '20
------- '5 = '6 '30
------- '6 = '7 '42
------- '7 = '8 '56
------- '8 = '9 '72
------- '9 = '10 '90
------ '10 = '11 '110
------ '11 = '12 '132
------ '13 = '14 '182
------ ..............
Im Alten Reich kannte man die Reihe
1 = '2 '4 '8 '16 '32 '64 ...
Die obige Säule führt auf eine analoge Reihe:
1 = '2 '2
--- '2 = '6 '3
----------- '3 = '12 '4
-------------------- '4 = '20 '5
------------------------------'5 = '30 '6
-------------------------------------- '6 = ...
1 = '2 '6 '12 '20 '30 ...
1 = '1x2 '2x3 '3x4 '4x5 '5x6 ...
(Die Teilreihe '1x2 '3x4 '5x6 ... ist übrigens der natürliche
Logarithmus von 2. Wo solche Logarithmen auftauchen ist Pi nicht
weit. Wer findet eine Brücke von dieser Reihe zur Kreiszahl?)
Ahmose gibt 2 x 13 so an: 2 x '13 = '8 '52 '104. Diese Konversion
findet man mit folgender Säule
--------- 1 = '4 '2 '4
-------- '2 = '5 '5 '10
-------- '3 = '6 '9 '18
-------- '4 = '7 '14 '28
-------- '5 = '8 '20 '40
-------- '6 = '9 '27 '54
-------- '7 = '10 '35 '70
-------- '8 = '11 '44' 88
-------- '9 = '12 '54 '108
------- '10 = '13 '65 '130
------- '11 = '14 '77 '154
------- '12 = '15 '90 '180
------- '13 = '16 '104 '208
....... "13 = '8 '52 '104
Die Säulen lassen sich zu Tabellen erweitern und führen
gar zu einer Algebra der Stammbrüche. Beispielsweise gelten
die Formeln:
wenn 'a = 'b 'c so 'na = 'nb 'nc
wenn 'a = 'b 'c so '2a '2c = '2b 'c
Die obigen Säulen basieren auf den Formeln:
'a = '(a + 1) 'a(a + 1)
'a = '(a + 3) 'a(a + 1)/2 'a(a + 3)
Es gäbe noch mehr solche Formeln. Die Zahlenbilder sind aber
leichter zu begreifen als die algebraischen Zeilen.
Bibliographie:
David Eugene Smith, History of Mathematics, Dover Publications,
New York 1953 (1925)
Wolf Meyer-Christian, Der 'Pythagoras' in Aegypten am Beginn
des Alten Reiches, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen
Institutes, Abteilung Kairo, Band 43, 1987
Sylvia Couchoud, Mathématiques Egyptiennes, Recherche sur
les connaissances mathématiques de l'Egypte pharaonique,
Editions Le Léopard d'Or, Paris 1993
W.S. Anglin and J. Lambek, The Heritage of Thales, Springer
New York 1995
Friedhelm Hoffmann, Aufgabe 10 des Moskauer Papyrus, In der
Zeitschrift für Aegyptische Sprache und Altertumskunde, Berlin,
1/1996
Die Arbeiten von Milo Gardner finden Sie im Web (Sie geben
am besten seinen Namen bei AltaVista ein). Seine Formeln erklären
alle historischen Konversionen und enthalten die obigen und
viele weiteren Zahlensälen in einer sozusagen eingefalteten Form.
Diese Zahlensäulen und Zahlenbilder werden das Thema der nächsten
Fortsetzung sein.
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